Lieber Frank, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Momentan nicht allzu glamourös: Wie viele anderen Autor*innen auch habe ich einen Brotjob, dem ich mich meistens am Vormittag widme. Derzeit mache ich die Öffentlichkeitsarbeit für die kleine, sympathische Fraktionsgemeinschaft PULS im Stuttgarter Rathaus und bin nebenher als Freier Journalist tätig – und das mache ich beides ziemlich gern. Aber im Mittelpunkt der nächsten Monate steht für mich natürlich besonders die Veröffentlichung meines dritten Romans „Mittnachtstraße“ (Voland & Quist). Gerade bereite ich die kommenden Lesungen aus dem Buch vor und habe auch schon die ersten Interviews gegeben – es stehen also zumindest ein bisschen glamourösere Zeiten an.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die Nerven bewahren. Aufeinander zugehen. Zuhören. Und nicht zuletzt: Die Angriffe derer, die den demokratischen Diskurs längst verlassen haben oder auf dem besten Wege nach draußen sind, einfach ins Leere laufen lassen. Alles andere gibt ihnen mehr Raum, als ihnen in unserer Gesellschaft eigentlich zusteht.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Es fällt den Menschen in unserer Gesellschaft immer schwerer, Ambivalenzen auszuhalten – weder mit Blick auf andere noch auf sich selbst. So wichtig Haltung und berechtigter Widerspruch auch sind: Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht in einen Kulturkampf mit zwei einander unversöhnlich gegenüberstehenden Seiten ziehen lassen, wie er etwa in den USA längst herrscht. Und da sehe ich auch die Literatur, die Kunst in der Pflicht: Empathie lernen wir nur, wenn wir versuchen, andere zu verstehen – und zugleich wagen, uns auch unseren eigenen Widersprüchen zu stellen.

Was liest Du derzeit?
Aktuell lese ich „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier, davor war’s „Die Diplomatin“ von Lucie Fricke. Beides wirklich herausragend gute Bücher. Mein Lieblingsbuch in diesem Jahr war bislang allerdings „Erschütterung“ von Percival Everett – ein Meisterwerk.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
In meinem neuen Roman „Mittnachtstraße“ geht es unter anderem um Väter und Söhne und darum, wie schwer es ist, (falsche) Prägungen zu überwinden – und in der heutigen Zeit immer das richtige zu tun. Die Hauptfigur Malte hielt sich stets für einen guten Menschen, einen besseren als seinen cholerischen Vater, den er schon vor Jahren aus seinem Leben verbannt hat. Als dieser plötzlich wieder sein Leben tritt und als Demenzkranker auf seine Hilfe angewiesen ist, setzt das eine Kettenreaktion in Gang, die Malte all seine eigenen Widersprüche vor Augen führt. Wenn er permanent von schlechtem Gewissen und Scham geplagt wird: Ist er dann wirklich so ein guter Mensch, wie er immer dachte – oder ist er bloß ein Heuchler, der sich nach Anerkennung sehnt?
Wie aufrichtig unsere Überzeugungen eigentlich sind, das ist eine Frage, die wir uns alle ab und an stellen sollten – und die gleich bei der ersten Begegnung beider Figuren im Roman auf den Punkt gebracht wird. Als Maltes Vater in erkennbar schlechtem Zustand wieder auftaucht, heißt es:
Trotzdem beteuerte er, als er nach fast zwei Jahren Funkstille unerwartet in Maltes Einfahrt auftauchte, süffisant: »Wie soll’s mir schon gehen? Du weißt doch: Schlechten Menschen geht’s immer gut.«
»Gilt das auch umgekehrt?«, erwiderte Malte gereizt, und damit war fürs Erste alles gesagt.

Vielen Dank für das Interview lieber Frank, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Frank Rudkoffsky, Schriftsteller
Foto_Ronny Schönebaum
9.9.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.