Liebe Ganna, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Enttäuschend für jene, die etwas mehr über mein Schreiben zu erfahren hoffen.
Denn ich schreibe dieses Jahr wenig und nur wenn ich glaube, dass meine Texte meinem Land etwas dienen könnten. Meistens sind das Artikel, die das Medienzentrum der Ukrainischen Community in Wien, dessen Ansprechperson ich bin, deutschsprachigen Medien anbietet. Manchmal, sehr selten, schreibe ich Gedichte als unmittelbare Reaktion auf etwas, was ich in den Nachrichten lese.
Mein Tag beginnt mit den Nachrichten von der ukrainischen Front und endet auch damit. Anders geht es nicht.
Mein Cousin kämpft gegen russische Okkupanten im Osten, meine Eltern sind Freiwillige in Kyjiw. Viele ukrainische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ich lese und denen ich seit Jahren in Sozialnetzwerken folge, sind heute Soldaten an der Front oder Freiwillige: Artem Tschech, Serhij Schadan, Artem Tschapaj, Halyna Kruk, Kateryna Kalytko, Andrij Ljubka. Statt literarischer Texte schreiben sie meistens Berichte über Medikamente, Autos und Munition. Am 9. Juni verstarb der Sohn der Schriftstellerin Switlana Powaljajewa, der Aktivist Roman Ratuschnyj, an der Front. Er war 24 Jahre alt. An diesem Tag bestand meine Chronik allein aus Nachrufen.
Was für andere nur ein „Thema“ in den Medien bleibt, das nicht mehr so „reizt“, ist für mich mein Land, dessen Schicksal eng mit meinem verbunden ist, und meine tagtägliche Realität, von der es keine Ablenkung gibt.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Wichtig ist, nicht zu vergessen, dass die momentane Gas- und Getreidekrise Russland und der blinden europäischen Politik gegenüber Russland zu verdanken ist.
Wichtig ist, nicht zu vergessen, dass auch die russische Invasion in der Ukraine seit 2014 sich vielleicht zu keinem großangelegten Angriff entwickelt hätte, wenn die Welt auf die Annexion der Halbinsel entschlossen mit harten Sanktionen reagiert und nach Alternativen für russische Rohstoffe gesucht hätte.
Wichtig ist, nicht zu vergessen und endlich aus der Geschichte zu lernen. Die meine und ältere Generationen zähle ich zu „verlorenen“ Generationen in dem Sinne, dass wir diesen Krieg Russland nie vergessen und sehr unwahrscheinlich verzeihen werden. Ich glaube, dass auch die nächste Generation – die Kinder meiner Freundinnen, die gerade 5-7 Jahre alt sind – diesen Krieg ihr ganzes Leben lang im Gedächtnis behalten werden.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich sehe keinen Aufbruch, sondern einen Bruch und eine Ruine nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf der Welt, und der Mordversuch an Salman Rushdie hat mir diese Vision nur bestätigt. Ich fürchte, dass unser Krieg nicht der letzte sein wird.
Aber ich versuche mal zu träumen und mir vorzustellen, dass dieser Bruch zu etwas Neuem führt und etwas Gutes bringt.
Ein Bruch mit Russland, ein Bruch mit Imperialismus und Kolonialismus. Eine Wende, die auch vor unserem Krieg begonnen hat: Die Neuentdeckung der „kleinen Literaturen“, die im Schatten großer Postimperien übersehen wurden. Das wünsche ich auch der ukrainischen Literatur.
Was liest Du derzeit?
Nachrichten, wie gesagt, und außerdem ukrainische Bücher, denn es gibt jeden Mittwoch Buchpräsentationen und Diskussionen im ukrainischen Zentrum Open Space Barbareum in Wien, die ich moderiere und auf die ich mich gründlich vorbereite. Bald werde ich eine Lesung der ukrainischen Schriftstellerin Tanya Pyankova moderieren, daher habe ich in meinem kurzen Urlaub ihren Roman Das Zeitalter der Roten Ameisen mitgenommen. Das ist ein schreckliches Buch – und ich meine damit, dass dieses Buch eine der schrecklichsten Geschichten des 20. Jahrhunderts – die vom Holodomor, der Hungersnot in der Ukraine – erzählt. Es sprechen in diesem Buch sowohl die Opfer als auch die Täter. Aber die wahre Hauptfigur des Buches ist der Hunger, und zwar nicht metaphorisch gesehen: Der Hunger handelt als Figur in diesem Text, er spricht mit, er fordert das Seine, er vergewaltigt, er macht einen wahnsinnig. In der Ukraine ist der Roman eine Neuerscheinung, aber auch in Deutschland wird das Buch bald erscheinen und man kann es bereits vorbestellen – im Ecco Verlag, in der Übersetzung von Beatrix Kersten. Keine leichte Lektüre für einen Urlaub – aber eine verpflichtende für jene, die nicht wissen, was die Ukraine im 20. Jahrhundert unter der russischen sowjetischen Macht erlebt hat.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Zwei Gedichte von Rose Ausländer, einer berühmten deutschsprachigen Dichterin jüdischer Herkunft, die 1901 in Tscherniwzi (heute Ukraine, damals Teil der österreichischen Bukowina) geboren wurde:
- MUTTERLAND
Mein Vaterland ist tot
sie haben es begraben
im Feuer
Ich lebe
in meinem Mutterland
Wort
- BIOGRAPHISCHE NOTIZ
Ich rede
von der brennenden Nacht
die gelöscht hat
der Pruth
von Trauerweiden
Blutbuchen
verstummten Nachtigallsang
vom gelben Stern
auf dem wir
stündlich starben
in der Galgenzeit
nicht über Rosen
red ich
Fliegend
auf einer Luftschaukel
Europa Amerika Europa
ich wohne nicht
ich lebe
Vielen Dank für das Interview liebe Ganna und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Ganna Gnedkova_Schriftstellerin, Literaturwissenschafterin, Übersetzerin, Journalistin
Foto_Georgii Kravchenko
31.8.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.