„Literarische Qualität und Vielstimmigkeit zu fördern als Beitrag zur Demokratie“ Nikola Huppertz, Schriftstellerin _ Hannover 30.8.2022

Liebe Nikola, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Von Tag zu Tag etwas unterschiedlich, wie eigentlich immer. Diesen August habe ich mir von Veranstaltungen weitgehend freigehalten und verbringe ihn schreibend in meiner Wohnung in Hannover. Das bedeutet, dass ich morgens versuche, meine Konzentration erst einmal auf mein aktuelles Romanprojekt zu lenken. Keine Nachrichten lesen, keine sozialen Medien aufrufen, nach Möglichkeit noch keine E-Mails beantworten, sondern gleich ins literarische Denken kommen. Gerne unterhalte ich mich beim Frühstück mit meinem Freund, der ebenfalls Schriftsteller ist, ich höre Musik oder lese ein bisschen. Dann setze ich mich an den Schreibtisch und schreibe eine oder zwei Szenen.

Erst danach lasse ich mehr Welt in meinen Kopf. Lese Zeitungsartikel, verschaffe mir Einblick in die wichtigsten tagespolitischen Ereignisse, schaue mich – möglichst kurz und mit innerer Distanz – in den Sozialen Medien um. Auch die Dinge, die aus meinem privaten Umfeld auf mich einströmen und mich fordern, finden dann die nötige Aufmerksamkeit: Familienangelegenheiten, die Nachrichten und Anrufe aus dem Freundeskreis. All das will eingeordnet und sortiert werden, insbesondere die vielen Negativmeldungen, mit denen wir in dieser Krisenzeit umgehen müssen, und die hohen emotionalen Ausschläge, mit denen auf sie reagiert wird. Die Ereignisse gründlich zu reflektieren, ist mir sehr viel wichtiger, als jeder einzelnen Meldung hinterher zu hecheln. Daher gehören ausführliche Gespräche zur Tagesordnung, gerne bei Spaziergängen mit meinem Freund, aber natürlich auch das (literarische) Lesen. Und dann gibt ja noch die ganz banalen Dinge, die aber auch erwähnt werden müssen, weil sie nicht unwesentliche Anteile des Tages in Anspruch nehmen: E-Mails und andere Büroarbeiten, Haushalt, Sport.

Nikola Huppertz, Schriftstellerin      

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Wir haben mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen umzugehen, ökologischen und gesellschaftlichen – und mit einer sie jeweils begleitenden Flut von Nachrichten und Meinungen, mit Zerwürfnissen und Lagerbildungen. Manche Ereignisse erfordern promptes Reagieren, bei anderen stehen wir da und wissen nichts zu tun, weil sie außerhalb unseres gewohnten Handlungsspielraums stattfinden.

Was meiner Meinung nach in jedem Fall vonnöten ist, ist eine Balance von persönlicher Reflexion und sozialer Teilnahme. Weder durch kopflosen Aktionismus noch durch Rückzug in ein hyggeliges Privates lassen sich Krisen bewältigen. Es erfordert eine gründliche Auseinandersetzung, um zu unterscheiden, welche Themen unseren vollen Einsatz verlangen und welche eher Nebenschauplätze sind. Auseinandersetzung heißt für mich, Tatsachen und Argumente gründlich anzuschauen und verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen. Komplexe Sachverhalte lassen sich nicht in Sekundenschnelle bewerten.

Mir erscheint es als elementar für ein friedvolles und freiheitliches Zusammenleben, demokratische Prozesse und Kompetenzen zu sichern, sei es durch Bildung und die Schulung kritischen Denkens, sei es durch differenzierte Diskurse.

Da ich überwiegend für Kinder und Jugendliche schreibe und sehr viele Veranstaltungen in Schulen durchführe, finde ich meinen persönlichen Ansatzpunkt im Gespräch mit jungen Menschen. Und ich glaube, auf andere Weise kann jeder Mensch bei dem, was er beherrscht und alltäglich tut, über den eigenen Tellerrand hinausschauen und sich fragen, in welcher Form er soziale Verantwortung übernehmen könnte.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Literatur und Kunst treten einen Schritt zur Seite. Sie spiegeln gesellschaftliche Prozesse, ohne am Tagesgeschehen festzukleben oder unmittelbare Handlungsimplikationen liefern zu müssen.

Um konkrete Probleme zu lösen, benötigen wir Menschen, die sich per se mit Problemlösungen beschäftigen: Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Personen, die sich sozial und ökologisch engagieren. Die Literatur wird ihrer Rolle nach wie vor am besten gerecht, wenn sie sich auf sich selbst besinnt: auf das Wort mit seiner ganzen Kraft und Schönheit, auf die Übernahme von Perspektiven, die Entwicklung von Ideen und Ausdrucksmöglichkeiten. Sie trägt zur Kritik bei und zur Imagination von alternativen Szenarien. Und sie führt uns immer wieder zu der Frage, was es eigentlich bedeutet, ein Mensch zu sein – auch und gerade in einer krisengeschüttelten Welt.

Was mich mit Sorge erfüllt, ist das Auseinanderklaffen der eigentlichen Rolle von Literatur und den Anforderungen des Buchmarktes. Es wäre auch ein Beitrag zur Sicherung der Demokratie, Literatur nicht allein den Marktgesetzen zu unterwerfen und zunehmend auf leichte Konsumierbarkeit zu setzen, sondern literarische Qualität und Vielstimmigkeit zu fördern.

Was liest Du derzeit?

Virginia Woolf: Die Wellen (eine alte Insel Leipzig-Ausgabe in der Übersetzung von Herberth und Marlys Herlitschka)

Jenny Odell: Nichts tun – Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen (C.H. Beck, übersetzt von Annabel Zettel)

Marieke Lucas Rijneveld: Kalbskummer/ Phantomstute (Suhrkamp, wunderbar übersetzt von Ruth Löbner)

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ich habe kürzlich wieder einmal in „So lebe ich jetzt“ von Meg Rosoff geschaut (Carlsen, übersetzt von Brigitte Jakobeit). In dem Jugendbuch aus den Nullerjahren geht es um die – anfangs magersüchtige – Daisy, die unfreiwillig aus den USA zu Verwandten nach England reist, wo dann ein (fiktiver) Krieg ausbricht und für Gewalt und Chaos sorgt. Die Familie wird auseinandergerissen, die Jugendlichen müssen für sich selbst sorgen. Daisy übernimmt Verantwortung für die jüngere Piper und schlägt sich mit ihr in den Kriegswirren durch, immer in Gedanken an ihren ungewöhnlichen Cousin Edmond. Gegen Ende des Romans heißt es:

Überall gab es Heckenschützen und kleine Rebellengruppen, chaotische Banden von versteckten Kämpfern, und meistens konnte man die Guten und die Bösen gar nicht auseinander halten und sie selber konnten es auch nicht. Busse flogen in die Luft und manchmal auch ein Bürogebäude oder ein Postamt oder eine Schule, man fand Bomben in Einkaufszentren und Paketen, und aus einem völlig unerklärlichen Grund gab es manchmal eine Feuerpause, bis dann irgendjemand auf eine Landmine trat und alles von vorne losging. Man hätte tausend Leute auf sieben Kontinenten fragen können, worum es eigentlich ging, und hätte nicht zweimal die gleiche Antwort bekommen; niemand wusste es genau (…).

Trotzdem ging das Leben weiter.

Und noch später:

Ich habe keine Ahnung, wie beschädigt Edmond ist, ich weiß nur, dass er Ruhe braucht und geliebt werden muss. Und das kann ich ihm beides geben.

Nun bin ich also hier bei ihm und bei Piper und Isaac und Jonathan, bei den Kühen und Pferden und Schafen und Hunden, beim Garten und bei der vielen harten Arbeit, die dazugehört, um einen Bauernhof zu führen und in einem vom Krieg verdorbenen und entstellten Land zu überleben. Ich kenne mich mit solchen Zuständen aus, nur finden sie jetzt nicht mehr in mir statt. (…)

Ich wünsche allen, die in dieser Zeit beschädigt werden, die Ruhe und Liebe, die sie dringend benötigen. Und zumindest einen Waffenstillstand im Krieg gegen sich selbst.

Vielen Dank für das Interview liebe Nikola, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Nikola Huppertz, Schriftstellerin     

https://nikola-huppertz.de/ 

Foto_Bert Strebe

29.8.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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