„Wir müssen uns im Theater raus zu den Menschen bewegen“ Christina Rast, Regisseur:in _ Bern 2.8.2022

Liebe Christina, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Wenn ich zuhause arbeite, bin ich eher eine Nachtarbeiterin und Langschläferin. Seit einem Jahr aber habe ich einen kleinen Begleiter, der stupst morgens seine Nase an meinen Fuß, weil er kuscheln will. Insofern hat sich mein Tagesablauf verändert.

Also erstmal kuscheln mit Hund, der zum Glück weder stinkt noch haart, vielleicht auch noch ein bisschen dösen und die Gedanken fliegen lassen. Diese Zeit zwischen 6 und 8 im Dämmerschlaf, dieser Raum zwischen Wachsein und Traum war schon immer mein Lieblingsmoment, denn da entstehen die schönsten Ideen. Die man dann leider wieder vergisst, wenn man sie nicht sofort aufschreibt. Mist! Dann einen Kaffee trinken, sich informieren, was so in der Welt passiert, kurz deprimiert sein, eine verfluchte und verdammte Morgenzigarette – die ich mir natürlich schon längst abgewöhnen möchte – rauchen, bevor es auf einen Spaziergang geht.

Entweder bin ich dann auch gleich auf dem Weg zur Probe, oder ich mache mir einen groben Zeitplan, was sonst so ansteht. Wenn ich an einem Projekt arbeite und probe, dann lass ich mich gedanklich komplett reinfallen, bin in einem Tunnel, schalte meinen Turbo an, begebe mich in einen Arbeitssog, und tauche erst nach der Premiere wieder auf. Die ersten Gedanken am Morgen gehören der Produktion und der bevorstehenden Probe, die letzten vor dem Einschlafen der vergangenen. Da bleibt wenig Raum für Anderes und Andere. Wenn ich gerade nicht probe, gibt es somit Einiges nachzuholen. Es fällt mir schwer, mich zu strukturieren und Prioritäten zu setzen. Es gibt viele Themen, die mich beschäftigen und in denen ich mich verlieren kann, viele Bücher, die noch gelesen werden wollen, viele Orte, die ich gerne entdecken würde, und viel zu viele Menschen, die ich zu lange nicht gesehen und umarmt habe.

Der Tag hat definitiv zu wenig Stunden. Die erste Corona-Vollbremse sah ich noch als große Chance. Denn zu Beginn des ersten Lockdowns hatte ich die naive Hoffnung, dass ich/wir über eine Entschleunigung viel grundsätzlicher über unsere Welt und den Erfolgs- und Produktionszwang nachdenken könnten. Das hat sich leider nicht bewahrheitet. Die Tage füllten sich sehr bald mit endlosen Zoommeetings, in denen alle versucht haben, noch schneller zu werden. Diese digitalen Treffen mit Kachelköpfen oder Namen ohne Körper machen müde.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Allgemein: Entschleunigung und Konzentration. Unsere Art der Kommunikation ist zu schnell für unsere Körper. Wir haben zu viele Informationen, die wir verarbeiten müssen, so dass wir gar nicht mehr ins Handeln kommen. Aufmerksam bleiben. Genauer hinschauen. Zuhören. Durch andere Augen schauen lernen, verstehen wollen und offen bleiben. Sich ins Verhältnis setzen zur Welt und zu wissen, dass Eigeninitiative wichtig ist und jede kleine Geste für jemand anderen einen Unterschied machen kann. Sich zu verzeihen, dass man nicht alle Probleme lösen kann und es dennoch immer wieder versuchen zu wollen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu?

Kunst ermöglicht über eine unmittelbare und sinnliche Erfahrung einen anderen Blick auf unsere Welt und somit eine Erweiterung des eigenen Horizonts. Sie hat das Potential, neue Perspektiven zu eröffnen und Menschen im gemeinsamen Erleben eines Kunstwerks einander näher zu bringen. Als Spiegel und kritische Weggefährtin bildet sie ein lebendiges Archiv unserer Gesellschaft.

Die nach wie vor größte Kraft von Theater ist die unmittelbare Kommunikation mit seinem Publikum. Und das ist durchaus anstrengend. Dieser gemeinsame Erlebnisraum ist nicht einfach selbstverständlich, sondern muss immer wieder neu geschaffen werden. Die Hoffnung, dass die Menschen ihr Theater in den letzten beiden Jahren schmerzlich vermisst haben und in Scharen zurückströmen, hat sich leider so nicht bestätigt. Wenn sich die Zuschauer:innen nicht mehr zu uns bewegen wollen, müssen wir uns mehr bewegen. Aus der Architektur raus zu den Menschen. Und dies nach Möglichkeit analog, anachronistisch, nahbar, träge Menschenmaterie mit viel Herz, schlau, niederschwellig, verbindlich und angreifbar. Denn das sind Kategorien, die uns heute im digitalen Hochgeschwindigkeitsrausch der unendlichen Vielfalt oft fehlen.

Was liest Du derzeit?

„Mein letzter Seufzer“ von Luis Buñuel.

„Iva atmet“ von Amanda Lasker-Berlin.

„Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili.

„Der eingebildete Kranke“ von Molière.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Albert Einstein (angeblich) oder aber aus dem Pamphlet einer Selbsthilfegruppe von Drogenabhängigen

Vielen Dank!

Sehr gerne.

Christina Rast_Regisseur:in

Vielen Dank für das Interview liebe Christina, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Theater-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an Künstler*innen:

Christina Rast_Regisseur:in

Fotos_privat.

4.7.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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