„Dass das Miteinander vielleicht Gestalten annimmt, die wir uns nie hätten vorstellen können“ Brigitte Wilfing, Choreografin, Performerin _ Wien 3.7.2022

Liebe Brigitte, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Immer anders. Gerade undiszipliniert und unproduktiv im herkömmlichen Sinn. Eine Zeit, in der ich das „Jetzt“ in deinen Fragen als jenen Moment, in dem sich das Zukünftige formt, adressieren kann. Daher anworte ich: ich werde getanzt, gelesen und geschrieben haben, meinem Doktorat näher gekommen sein und in dieser besonders wahnsinnigen Zeit besonders sanft gewesen sein.

Brigitte Wilfing, Choreografin, Performerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Das kann ich nur für mich beantworten. In Zeiten zunehmender Re-Ideologisierung der Gesellschaft, reaktionärer Identitätsphilosophie und ödipaler Identifikationspolitiken versuche ich über den Tellerrand meiner eigenen Meinung zu blicken. Die widerspiegelt bloß meinen Horizont. Der erscheint mal weiter, mal enger, aber in jedem Fall nicht so wichtig, als dass ich ihn äußern müsste. Es sei denn, ich werde gefragt.

Zuhören hilft, jenseits des Eigenen zu schnuppern und immer wieder zwischen Meinung und Wissen zu differenzieren und zu verschieben. Letztendlich aber existieren viele Wahrheitsverständnisse nebeneinander, diese Ambiguität gilt es auszuhalten. Wenn ich das eigene Verständnis nicht so ernst nehme, muss ich es auch nicht verteidigen und mich auch nicht bestimmten Ausschlusslogiken ergeben. So bleibt Energie für das was mir wichtiger ist.

So gelassen das jetzt klingt, ich beantworte diese Fragen in der Ausrichtung einer Anrufung, den Weg dahin gehe ich – mal gerade, mal komme ich ab.

Brigitte Wilfing _‘Land of the Flats’

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Tanz, der Kunst an sich zu?

Wir stehen immer vor einem Neubeginn. Aber ja, der Ausblick ins Morgen war schon mal heiterer und von größerer Zuversicht getragen. Als ich jünger war, ging ich davon aus, dass alles gut werden würde. Diese Zukunft, wie ich sie früher kannte, existiert nicht mehr in mir. Heute geht es mir darum, die Schwierigkeiten auszuhalten und damit zu arbeiten: was zeigt und lehrt uns diese verwundete Welt, was können wir anders machen, zu welchen Weisen des Zusammenlebens ruft uns dieser zerstörte Planet?

Der Kunst kommen dabei alle und keine Rollen zu, sie hat per se keine bestimmte Funktion. Sie operiert auf vielen Ebenen und entzieht sich einer einheitlichen Wirkweise und Lesart. Ihre Bedeutung gehört niemandem, sondern zeichnet sich durch die Pluralität der Begegnungen aus, die sie hervorbringt. Kunst, die jemand als gewalttätig empfindet, kann für jemand anderen erhellend und reinigend sein. Kunst ist Berührung. Es wäre eindimensional, wenn wir nur von Kunst, die schön ist, politisch korrekt, in der verbindende, fürsorgliche oder dekoloniale Praktiken und andere durchaus notwendige Impulse unserer Zeit zentral sind, berührt werden könnten. Mit Rancière gesprochen, ist Kunst ganz oft da emanzipatorisch, wo sie es gar nicht darauf anlegt. So wie nach Auschwitz weiterhin Gedichte geschrieben wurden, finde ich Kunst, in der Nabelschau betrieben wird, genau so bedeutsam, wie Kunst, in der neue Formen des Zusammenseins imaginiert werden.

Brigitte Wilfing _‘Land of the Flats’

Wichtig finde ich und jetzt spreche ich doch von einem Wir: wichtig ist, dass wir Künstler:innen auf so vielen Ebenen wie möglich auch tun, wovon wir sprechen. Es bedarf keiner weiteren schönen Worte und Gedanken, wenn das entsprechende Handeln ausbleibt. Wenn wir neue Räume und Seinsweisen imaginieren, von politics of care, relational aesthetics und speculative ethics sprechen, dann müssen wir bereit sein, die Konsequenzen dieser neuen Räume zu tragen. Konsequenzen, die uns vielleicht nicht immer gefallen, weil sie bedeuten, Gewohntes aufzugeben, weil sie unser Wissen demontieren vermögen, weil ein Fair Pay aller Beteiligten vielleicht heisst, mit weniger Performer:innen zu arbeiten, als es der Arbeit „stehen“ würde, weil andere Arbeitsweisen vielleicht auch danach verlangen, das Ruder abzugeben oder es anders in die Hand zu nehmen, weil es bedeutet, etwas zu riskieren, zu riskieren, dass das Miteinander Regie führt und dies vielleicht Gestalten annimmt, die wir uns nie hätten vorstellen können.

Brigitte Wilfing, „‚growing sideways‘

Was liest Du derzeit?

Ich bin gerade dabei, Bücher für den Sommer zu sammeln. Wie oben schon gesagt, ich werde ja viel gelesen haben. 🙂

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ich schreibe mit zwei Katzen an meiner Seite, während ich an euch denke. Möge ich sie niemals verraten, denn damit verriete ich mehr als mich selbst, ich verriete das Beste vom Menschen.

Hélène Cixous „Liebes Tier – Für Kinder und Erwachsene“

Vielen Dank für das Interview liebe Brigitte, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Tanz-, Performance-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Brigitte Wilfing, Choreografin, Performerin

Fotos _ 1 Portrait Andrea Peller; 2-4 Markus Sepperer.

16.5.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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