Lieber Axel Karner, herzliche Gratulation zum Klagenfurter Humbert Fink Preis für Literatur 2022!

Du bist im Kärntner Drautal in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen und warst dann als Religionslehrer in Wien tätig. Wo siehst Du Wurzeln, Inspirationen Deines Schreibens?
Das Aufwachsen in einem evangelischen Pfarrhaus am Dorf mit seinen sprachlichen, religiösen und bildungsbürgerlichen Eigenheiten, sozialen Zwängen und familiären Idyllen, in denen die damaligen politischen und kulturellen Verhältnisse Kärntens mit seinen immer wieder nationalistisch geschürten Konflikten zwischen deutsch und slowenisch sprechenden Kärntnern kaum, und wenn nur verhüllt, abgebildet und thematisiert worden waren, barg viel Widersprüchliches. Neben dem geradezu verklärten Bild einer sorglosen Kindheit stand Verdrängung und Abspaltung. Eine zwanglose Unbefangenheit „Bullerbü´scher“ Gestaltung war im Rahmen sozialer Kontrolle durch Gemeindeglieder kaum zu leben und sicher nicht erwünscht.

Meine frühe Entwicklung vollzog sich auf einem Spannungsfeld gesellschaftlicher Privilegierung und einem daraus resultierenden Rollenverständnis, das mich von dörflichen Ereignissen oft schmerzlich fernhielt, zugleich aber eine besondere Aufmerksamkeit zumindest gegenüber der evangelischen Mehrheitsbevölkerung des Dorfes einforderte.
Die Wurzeln meines Schreibens finden sich in der Polarität einer wissenschafts-theologischen Sprachlosigkeit meines Vaters und einer besonderen seelsorgerlichen Zuwendung zu seiner ländlich-agrarisch zusammengesetzten Gemeinde. Was ein bestimmtes Maß an Empathie und ein hohes Gespür für Sprache und für Kommunikation voraussetzte. Aber auch aus der Musikalität meiner Mutter mit ihrem pädagogischen Scheitern an uns Kindern scheint eine Sehnsucht nach künstlerischem Ausdruck und sprachlichem Verständnis gewachsen zu sein.

Martin Luther betonte das „aufs Maul schauen“, die Wichtigkeit sprachlicher Lebenswelt, in seiner Bibelübersetzung. Deine bevorzugte literarische Sprachform ist die Lyrik im Dialekt. Was macht für Dich das Hören und Sagen im Schreiben aus?
Luthers Anspruch eines umfassenden Bibelverständnisses war zwar nur bedingt herrschaftskritisch angelegt, war aber umso befreiender in Sozial- und Glaubensfragen und verknüpft mit der Vorstellung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen. Authentizität in der sprachlichen Umsetzung der Übersetzung und Ausdeutung des biblischen Textes und eine genaue, das heißt die Lebenswelt der Leser abbildende Sprache, zeugen von seinem hohen sozialen Verständnis. Die Forderung nach allgemeiner Bildung folgt zwangsläufig. Luthers Ausspruch intendiert, im Verständnis der sprachlichen Botschaft, nahe seiner angesprochenen Zielgruppe zu sein. In seiner Emotionalität und musikalischen Veranlagung hatte Luther schließlich auch ein Gefühl dafür und setzte es gekonnt sprachkünstlerisch und musikalisch um.

Aber mit dem „aufs Maul schauen“ allein ist es nicht getan. Prinzipiell hat jede Form von Sprache seine Berechtigung. Sprache ist für alle komplexeren Tätigkeiten und Denkvorgänge des Menschen unverzichtbar. Einschränkungen sind moralisch und ethisch begründet. Sprache ist aber kein „nachträgliches“ Mittel zur Verständigung zwischen Menschen, denn jede Auffassung von Dingen und Sachverhalten in der Welt ist sprachlich strukturiert. Der Mensch lebt und arbeitet in der Sprache.
Dass Sprache als komplexes kommunikatives System als „Medium des Denkens und der Weltauffassung“ (Alexander von Humboldt) zu verstehen ist, gilt auch für den Gebrauch des Dialekts.
Ganz egal, ob dieser nun als regionale Form des Sprechens und Schreibens einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe als authentisches kommunikatives Mittel zugeschrieben wird, oder ob er als Kunstmittel etwa in einem Wechsel und Austausch der Sprachäußerungen unterschiedlicher sozialer Gruppen zum Zweck der Verfremdung oder als Ausdruck der Befremdung, eine Rolle spielt.

Letzten Endes geht es immer um Diskurs und Verstehen wollen in einer unterschiedlich erfahrenen und aufgefassten Welt. Ein Rest an Miss- und Unverständnis wird bleiben.
Für meinen frühen und damit prägenden Spracherwerb sind mehrere Aspekte entscheidend. Es gibt keine muttersprachliche Herleitung für mein Sprechen. Die Verkehrssprache zu Hause war gepflegte Umgangssprache. Mein Vater, der als in der Monarchie geborener Burgenländer mehrsprachig aufgewachsen ist, lernte Deutsch in der Form des heanzischen Dialekts und Ungarisch. Meine Mutter, in Leipzig geboren, sprach ursprünglich sächsisches Deutsch und musste, um in Kärnten verstanden zu werden, „nach der Schreibe“ reden.

Wie kam ich dann zu meinem ausgeprägten Kärntner Dialekt? Um in der sozialen Besonderheit als Pfarrerskind nicht auch sprachlich aufzufallen, habe ich die Rede der Dorfkinder übernommen. Meine erste Fremdsprache ist Deutsch und mindestens genauso mangelhaft, wie alle anderen Sprachlernversuche im Laufe meines Lebens.
Welche Themen wählst Du in Deiner Dichtung?
Ich folge einer inneren Struktur. Themen drängen sich auf. Es sind scheinbar fast immer dieselben: der Mensch in seiner Einsamkeit, ausgesetzt der Gewalt, der Unterdrückung erleidet und verzweifelt, und in seiner Sprachlosigkeit im Wechselspiel zwischen Macht und Ohnmacht auf seinen Tod zugeht. Dabei zieht sich Sprachlosigkeit wie ein roter Faden auch durch mein Leben, überspielt und übertüncht von pausenloser Plapperei.

Ich wähle Themen nicht in der Weise, dass ich mir die Frage stelle, welchem Zeitgeschmack und welchem aktuellen Ereignis ich mich als nächstes zuwenden könnte. Mich treiben weder kommerzielle, noch imagefördernde Motive. Noch werde ich wichtigtuerisch über das Weltgeschehen kalkulieren.
„Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht“ formulierte die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Was kann, muss Sprache angesichts des Krieges leisten?
Bachmann fragt, sucht, ringt in ihrer Dichtung um ein befreites weibliches Selbstverständnis, angesichts einer vom Nationalsozialismus, von Krieg und Mord geprägten, zum Großteil absenten Vätergeneration. In diesem verleugnenden, verdrängenden und dann auch abgespalteten Kontext verstehe ich auch meine eigene Blindheit und eigenes Versagen in der Welt.
Wir sind alle Stammler. In biblischer Diktion würde ich mahnen: Hütet euch vor den glatten, geschliffenen Reden.

Sprache ist ein äußerst ambivalentes Phänomen. Sie kann fragil und zart, zugleich gewaltig, vehement und gewalttätig, tröstend, ohnmächtig, wortlos heilend und eloquent leer, oder ganz einfach vernichtend sein.
Angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine scheint es, dass Sprache nichts vollbringt, obwohl wir ständig propagandistisch manipuliert werden. Und auch gegenseitig manipulieren. Trotz dieses Versagens bleibt die Sprache wohl unsere einzige Hoffnung und Chance, aus dem Dilemma der Zerstörung herauszukommen.

Was liest Du selbst gerne?
Im Gegensatz zu meiner Ausbildung bin ich ein eklektischer Leser. Lese, was mir unterkommt. Ich klaube, lese auf, was ich finde, sammle (lego), oder lass abseits liegen, bis ich es gebrauchen kann oder etwas passt. Entziffre, deute, erkläre. In dieser Anarchie der Eindrücke hat auch der Zufall seine Systematik. Was mir zufällig erscheint, baut letztlich immer auf einem persönlich erfahrenen Hintergrund.

Derzeit lese ich unter anderem viele handwerklich gut erzählte Krimis des „American Noir“. Geschichten von Jim Thompson, Chester Himes, James Lee Burke, die bevölkert sind von Außenseitern, vom Schicksal einen Arschtritt kriegen und die, ohne Chance auf Erlösung um ihr nacktes Leben rennen. Dabei interessiert mich vor allem der soziale Subtext und fasziniert mich, wie die Ausweglosigkeit der Figuren und deren Führung durch den Autor, den Leser die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht spüren lässt (Chester Himes, Lauf, Hase, lauf). Eine ganz eigenartige und manchen persönlichen Alltagserfahrungen entsprechende Interpretation von Lebenslauf.

Vielen Dank für das Interview, lieber Axel! Alles Gute und viel Freude und Erfolg weiterhin!
Humbert Fink Preisträger 2022 _ Axel Karner, Schriftsteller_Wien
Alle Fotos_Walter Pobaschnig 2021
Neuerscheinung: Axel Karner, „In adern dünn brach licht“ Gedichte. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec 2020
Walter Pobaschnig 6_22