



Romanschauplatz _ Malina _Ingeborg Bachmann _ Wien
Liebe Corinna, wir sind hier an persönlichen wie literarischen Bezugspunkten der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann in Wien. Ist es auch in Deinem Schreiben so, dass Du Lebensorte als Ausgangspunkte aufnimmst?
Lange Zeit habe ich meine Figuren nicht verortet; sie lebten in ihrer eigenen Welt, oftmals mehr an ihre Vorstellung von als an die Welt selbst gebunden. Das Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Traum und Realität, die Annahme eines Dazwischen, ist ein Thema, das in meinem Schreiben immer wieder aufscheint.

Mehr und mehr kamen dann doch konkrete Städte in die Geschichten, oftmals erst, nachdem ich selbst sie verlassen hatte: Hamburg wurde Spielplatz, als ich bereits in Österreich wohnte, meine Geburtsstadt Bremen erst zwanzig Jahre nach meinem Weggang; nur Linz hat sich zeitgleich festgeschrieben in einem meiner Romane, als ich noch vor Ort lebte. Dahingegen schrieb ich in meinem neuen Roman Barcelona Dream über Barcelona, obwohl ich zuletzt als Achtzehnjährige dort gewesen war. Die Stadt drängte sich mir während eines Aufenthalts in der Bretagne in einen Traum, in dem Madrid am Meer lag, sodass ich meine fiktive Handlung kurzerhand nach Katalonien verlegen musste. Erst nach Beendigung des Manuskriptes fuhr ich Tatsächlich vor Ort, um zu überprüfen, inwieweit Traum und Text mit der Wirklichkeit korrespondieren. „Ich werde“, so drückt es meine Protagonistin aus, „durch die Stadt schlendern und die Fiktion an der Wirklichkeit überprüfen.“ Und weiter: „Jeder Ort hat seinen Traum, und mit diesem Ort bin ich der Wirklichkeit meiner Träume womöglich näher gerückt, als ich es jemals zuvor war.“

Die Wirklichkeit folgt der Vorstellungswelt. Oder anders: Sie wird den Vorstellungen gemäß angepasst. In diesem Sinne sind Orte für mich ein Gefäß, das ich füllen darf. Ich nenne das für mich meinen magischen Realismus oder, wie Reinhard Ehgartner in einer Rezension zu dem Roman Hinter die Zeit schrieb, der in einem nicht näher bezeichneten Ort in Tschechien spielt: „Historisches, märchenhaft Archetypisches und gegenwärtige Lebensrealität verlieren ihre Grenzen und beginnen ineinander zu gerinnen.“

In Deinem 2018 erschienen Roman „Drei Tage Drei Nächte“ geht es um einen inneren Rückzug einer Frau in Reflexion und Erkenntnis in radikaler Weise. Siehst Du Dich da auch dem literarischen Weg Ingeborg Bachmanns verbunden?
Ich lese Ingeborg Bachmanns Literatur als einen Versuch, immer tiefer in Sphären vorzudringen, in denen es sich selbst zu ergründen gilt, und dabei gleichsam auf der Suche nach einem Begreifen von Welt zu sein, das möglicherweise allein über den Weg der Selbsterkenntnis möglich ist. Also ja: Ich fühle mich verbunden. Unbedingt.


Wie sie glaube ich an die Notwendigkeit, das Denken zu erlernen, zu erproben und mit Hilfe dieses Denkens zu versuchen, das, was wir fühlen und vorfinden, zu durchdringen und Veränderung herbeizuführen. Ohne die Bereitschaft, sich dem Schmerz und dem Nicht-Verstehen-Können zu öffnen und sich den Fragen auszusetzen, auf die es keine eindeutigen Antworten geben kann, werden wir vermutlich keine neuen Formen des Miteinanders entwickeln. Auch nicht zwischen Mann und Frau. Und dafür braucht es wohl die Introspektion, das Ausdifferenzierte, den gelegentlichen Abstand.


Ich vermeine in den Texten die mir bekannte Empfindung wiederzufinden, sich der Welt gegenübergestellt zu sehen, statt Teil von ihr zu sein, auch das Gefühl, an ihr zu leiden manches Mal, und doch den Glauben an den Menschen als solchen nicht zu verlieren. Diese Erfahrung fließt in mein Schreiben ein, während ich zugleich versuche, wieder und wieder eine Brücke zu bauen, in Verbindung zu treten, aus der (auch häuslichen) Isolation herauszutreten. Sprache kann ein Brückenbauer sein und zu einer Form der Verständigung führen. Der Verbindung auch.

Und ich finde bei Bachmann die Dringlichkeit wieder, die auch mich zum Schreiben trieb. Ihr verdanke ich die Erfahrung, dass es möglich ist, eine Sprache für das zu entwickeln, was in uns vorgeht und weiter vordringen zu können in die Tiefen der menschlichen Psyche. Das allein ist ein Grund, warum es lohnt, die tagtägliche Plackerei auf sich zu nehmen, wie es Christa Wolf in Bezug auf das Schreiben ausdrückt.








Von Bachmann kam ich zu Elfriede Jelinek, und diese drei Frauen, Bachmann, Jelinek, Wolf gaben mir den letztgültigen Impuls, Literatur zu wagen. Mit ihnen habe ich die Aufnahmeprüfung an die Universität bestritten, um aus dem Traum, Schriftstellerin zu werden, Wirklichkeit werden zu lassen, frei nach oben genanntem Motto: Die Wirklichkeit folgt dem Traum.
Welche Bezüge gibt es von Dir zu Ingeborg Bachmann?
Nachdem es mir in meiner Kindheit und Jugend erfolgreich gelungen ist, mich beim Lesen und Filmeschauen von meinem Geschlecht zu entkoppeln und mich ausschließlich mit den männlichen Autoren und deren Protagonisten meiner Lektüre zu identifizieren, offenbarte mir Bachmann einen Einblick in innere Verstrickungen, von denen ich nicht gewusst hatte, dass andere sie teilen: Die Erfahrung der Abhängigkeit von der Anerkennung der Männer, die zugleich über Aufnahme in das künstlerische und intellektuelle Leben in unserem Kulturraum entscheiden, der Sturz ins Verstummen der eigenen Stimme; das Trudeln zwischen Subjekt-Sein-Wollen und als Objekt gebraucht zu werden; das Infragestellen der eigenen Leistung, ja des eigenen Seins, die schmerzhafte Variante des Zwischen-den-Welten-Stehens, der Riss in der Wand, in dem die (schreibende) Frau verschwindet, weil sie nicht wahrgenommen wird.




Ingeborg Bachmanns Aversion gegen Frauen, Berührungen von Frauen, vollziehe ich nach und dennoch schmerzt sie mich zutiefst, bedeutet das doch nichts anderes als die Abwertung der eigenen Existenz als Frau, die sich aus der Erfahrung eben dieser Abwertung speist. Ich bin froh, mit den Jahren eine größere Wertschätzung entwickelt und vermutlich erfahren zu haben, allein: Es bleibt Platz nach oben.










Wir sind hier am Romanschauplatz „Malina“. Wie bedeutsam ist dieser Roman für Dich bzw. die Literatur?
Malina war eines der wichtigsten Bücher meiner Lesebiografie. Der Roman öffnete mir den Zugang zu einer Literatur, nach der ich zuvor gesucht hatte, ohne es zu wissen. Bachmanns Unerschrockenheit, ihr Sich-Ausliefern in Verbindung damit, Beobachtungen, Gedanken, auch Verletzungen, in kunstvolle Sprache zu übersetzen, die dem Individuellen eine allgemein menschliche Wahrheit verleiht, habe ich bewundert. Wochenlang bin ich durch Bremen gestreift, auf der Suche nach einer VHS-Kassette mit der Verfilmung des Romans, das Drehbuch aus der Feder von Elfriede Jelinek.






Heute, nach nochmaliger Lektüre, lese ich ihre Bücher mit einem veränderten Blick. Der Horizont ist erweitert, Ahnungen sind um Erfahrungen bereichert, die ich als Jugendliche noch nicht teilen konnte, die eine davon: In Österreich zu leben. Unverändert bleibt die Wirkung der Sprache auf mich, das unmittelbare Verstehen von dem dort Geschriebenen, oder dem, was ich zu verstehen meine, und wie verstanden ich mich selbst fühle darin. Und das ist auch ein Aspekt, den Literatur zu leisten imstande ist.




Daneben verstehe ich Literatur als Möglichkeit, Einblicke zu gewähren, Menschen zu zeigen, ihnen eine Sprache zu geben mit allem und für alles, was den einzelnen Menschen ausmacht. Sie kann Perspektiven einnehmen, Ambivalenzen beschreiben, Fragen aufwerfen, preisgeben, was oftmals versteckt bleibt.


Vielleicht erreicht mich Malina nun noch unmittelbarer als jemals zuvor, fühle ich den Inhalt stärker, als dass ich über ihn nachdenke. Und manches Mal verspüre ich beim Lesen auf einmal den Impuls, dem ICH hinauszuhelfen aus der Selbstzerstörung, die unentwegt mitschwingt und das erzählt mir, dass sich in den letzten fünfzig Jahren doch etwas verändert hat. Das Leben gibt Ingeborg Bachmann Recht: Es lohnt sich, zu denken und dieses Denken schreibend zu entfalten, auf dass es sich im Körper des Schreibenden und Lesenden niederlässt. Literatur öffnet den Raum zum Verstehen und Weitergehen, also tatsächlich in die Möglichkeiten zur Veränderung hinein.

Hier zeigt sich für mich ihre wahre Kraft.

In Deinem 2015 erschienen Roman „Hinter der Zeit“ spielt Geschichte und persönliche Gegenwart eine wesentliche Rolle. Wie bedeutsam ist Geschichte und Psychologie in Deinem Schreiben?
Mein ursprünglicher Wunsch war tatsächlich, Psychologie zu studieren. Einen Studienplatz hatte ich bereits, als ich mich entschied, es allen Unkenrufen zum Trotz mit dem Schreiben zu probieren und Literatur zu studieren. Das Interesse an inneren Vorgängen, an der Psychoanalyse, der Antrieb, verstehen zu wollen, warum wir uns wie verhalten, ist mir geblieben, und ich lese nach wie vor mit Begeisterung psychologische Fachliteratur.


Gerade beschäftigte ich mich wieder einmal mit Sigmund Freud, da ich für das Alsergrunder Literaturstipendium einen Text mit Motiven aus dem Leben Anna Freuds verfasste. Und kaum schlage ich eines der Werke von Freud auf, fühle ich mich augenblicklich zurückkehren zu dem, was mir einst vertraut war, vertraut wie der Wunsch, tiefer in den Menschen hineinzudringen und hervorzuholen, was dort vor sich geht. Das kann Literatur besser als alles andere: ein Schlüssel zum Unbewussten sein, und da sind wir wieder bei Christa Wolf, die sich diesem Schlüssel bedient hat, wie viele andere es ebenfalls getan haben, ohne es so zu bezeichnen. Auch Bachmann.

Auch für Geschichte interessiere ich mich in erster Linie unter diesem Aspekt: Welche Auswirkungen hat die Geschichte auf uns, also wieder auf das Gefühlsleben auch späterer Generationen, auf die Selbstwahrnehmung, das Verständnis von Welt, von Gut und Böse.

In diesem Sinne folgt HINTER DIE ZEIT der Idee einer systemischen Aufstellung, um ein transgenerationales Trauma aufzudecken.

Der Roman „Hinter der Zeit“ hat auch ein bemerkenswertes Coverfoto. Wie kam es dazu?
Mein damaliger Verleger Jürgen Schütz und ich sind beim Surfen im Internet darauf gestoßen. Bei dem Versuch, ein geeignetes Cover zu finden, telefonierten wir, während wir uns durch etliche Bilder klickten, und bei dieser Fotografie von Heather Evans Smith innehielten. Glücklicherweise konnte ich ihn überreden, die Rechte daran für die Verwendung als Buchcover zu erwerben.

Ich wollte es unbedingt!

Für mich bildet die Fotografie den Zustand meiner Protagonistin bestmöglich ab, als sei sie eigens auf den Text hin produziert. Das zeigt somit vermutlich wieder nur, dass die Zustände eines einzelnen Menschen eben keine Einzelerscheinungen sind.

Wie war Dein Weg zur Literatur und welche Schwerpunkte gibt es da?
Seit ich schreiben kann, schreibe ich bereits Geschichten, ohne in erster Linie Geschichten erzählen zu wollen als vielmehr eine innere Reise, die Gefühle, Gedanken, Erfahrungen miteinschließt. Lange Zeit fürchtete ich, dass ein Schreiben, das nicht in erster Linie „erfindet“, sondern beschreibt, nicht möglich und „erlaubt“ ist, sondern ich so schreiben müsse wie andere (Männer) es taten.

Eine eigene Sprache zu finden und mich dem Sichtbarmachen psychologischer Vorgänge zu widmen, das war mir immer Wunsch und Antrieb. Die Entwicklung meiner Figuren, ihr ganz eigener Weg und Erleben bildet sich jeweils in der äußeren Handlung ab.

Das, was mich am Schreiben interessierte, fand ich dann in der Literatur von den bereits genannten Schriftstellerinnen wieder, aber auch bei Borges, Kafka, den Romantikern, hier vor allem ETA Hoffmann, deren Subjektempfinden nicht zufällig die Entdeckung des Unbewussten durch die Psychoanalyse Freuds begreifen und erklären hilft. Überall dort, wo sich der Ausdruck menschlicher Zerrissenheit findet.

Was sind Deine derzeitigen Projektpläne?
Ich habe begonnen, an ersten Entwürfen zu einem Manuskript zu arbeiten, aus dem sich wohl ein Roman entwickeln wird. Ich erzähle hier aus der Perspektive eines jungen Mannes vom Oszillieren zweier Menschen zwischen Nähe und Distanz.



In diesem Text gibt es übrigens einen konkreten Ort, der auch für mich eine Bedeutung hat: Mein Protagonist zieht sich in die Einsamkeit des nordfriesischen Wattenmeers zurück und versucht über die Entfernung hinweg in einen stummen Dialog mit seiner Freundin zu treten – ein Gegensatz, der sein Verhältnis zu ihr widerspiegelt und ihn während der einsamen Spaziergänge im Watt nicht nur der Flut entgegentreibt, sondern auch dem Schmerz um den Verlust der Beziehung zu seinem Bruder.

Welche Bezüge gibt es von Dir zu Wien?
Bevor ich von Hamburg, beziehungsweise aus dem Ammerland, nach Linz zog, war ich weder einmal in Wien noch überhaupt je in Österreich gewesen. Nun lebe ich bereits seit sechzehn Jahren in Oberösterreich und der Liebe wegen zieht es mich auch regelmäßig nach Wien, in die Museen, ins Burgtheater.

Seither lese ich die Texte österreichischer AutorInnen wieder, es kommen neue hinzu, und beim Arbeiten an dem Freud-Text bin ich erstmals auch in der Berggasse 19 gewesen. Und jetzt in der Ungargasse. So finde ich sie wieder, die alten Bekannten. Und neue finde ich durch Workshops, die ich im Auftrag von FC Gloria abhalte – Thema: weibliche Rollenvorbilder …
Welche Eindrücke nimmst Du vom „Ungargassenland“ Ingeborg Bachmanns mit?
Von der Höhe in die Tiefe in die Höhe. Und vom Gewölbe in Ivans Haus staubige Schuhe. Aber: „Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen schwarzgoldene Augen haben, sie werden die Schönheit sehen, sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last.“







Eigentlich wollte ich mir noch die Himbeere pflücken und sie mitnehmen, damit sie bei mir wohnt, aber der Regen war zu stark.



Und: Hinter dem Riss gibt es Licht.


Darf ich Dich abschließend zu einem Ingeborg Akrostichon bitten?
Inwendige
Neugier
Geht
Einher mit dem
Bemühen, die Welt zu verstehen
Oder auch den
Riss zu kitten, der uns zu töten
Gedroht hat

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Vielen Dank, liebe Corinna, für Deine Zeit in Wort und Bild bei „Malina“, alles Gute für alle Projekte!
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Walter Pobaschnig, 5_22