„Der Fokus auf die Elite, auf die Stars, die großen Häuser und teuren Produktionen muss sich ändern“ Nadja Puttner, Tänzerin_Wien 4.5.2021

Liebe Nadja, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Meine Tage sind trotz des nun schon so lange dauernden Kultur Lockdown ziemlich voll. Ich starte meistens mit einer Yoga-Einheit in den Tag, zweimal wöchentlich unterrichte ich morgens in einer Musical-Ausbildung Ballett. Live. Ein Highlight, denn ich vermisse den Ballettsaal und die Arbeit im Studio. Ab dem späten Nachmittag unterrichte ich dann online Tanzklassen, v.a. Ballett aber auch Modern und Körperarbeit für Tänzer*innen.

Nadja Puttner_ Tänzerin, Choreografin, Tanzpädagogin

Geprobt habe ich den letzten Monaten kaum, da ja keine Live Vorstellungen möglich sind. Ich bin freischaffende Choreografin und Performerin, setze vor allem meine eigenen Tanztheaterstücke um.

Seit März letzten Jahres wurden all meine geplanten Projekte entweder abgesagt oder auf unbestimmte Zeit verschoben. Trotzdem bemühe ich mich, kreativ zu bleiben und auch regelmäßig zu trainieren. Zur Osterzeit des Jahres durfte ich für die Eröffnung einer Kunstinstallation im Wiener Stephansdom eine Performance choreografieren und auch tanzen. Da habe ich gemerkt, wie sehr mir die Bühne und das Performen vor Publikum fehlt – hoffentlich wird das bald wieder möglich sein!

Im Rahmen der von mir mitbegründeten Initiative Tanz und Bewegungskunst Österreich und als Bereichssprecherin für Tanz und Kultur bei der gewerkschaftlichen Initiative vidaflex engagiere ich mich seit Mai 2020 für eine Aufwertung des künstlerischen Tanzes in Österreich. Insbesondere die Verbesserung der sozialen Lage von freischaffenden Tänzer*innen, Choreograf*innen und Tanzlehrenden liegt mir dabei sehr am Herzen. Die Arbeitsbedingungen in der freien Tanzszene waren schon vor Corona schwierig bis prekär, und die Krise hat sie Situation leider dramatisch verschärft, wie eine von uns durchgeführte Umfrage bestätigt. Durch meinen Einsatz hoffe ich zu erreichen, dass die Künstler*innen der freien Tanzszene langfristig mehr Wertschätzung für ihre Arbeit in Gesellschaft, Politik und auch innerhalb der Künste erfahren.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Unsere Träume nicht aus den Augen zu verlieren! Das fällt mir allerdings selbst auch nicht immer leicht. Alles, was ich  mir in den letzten Jahren künstlerisch aufgebaut habe, ist durch die Pandemie unterbrochen worden. Die Zukunft ist für uns freischaffende, im OFF-Bereich tätigen Künstler*innen mehr als ungewiss. Manchmal habe ich Angst, dass ich nicht mehr an die künstlerischen Aktivitäten von vor Corona anschließen werde können.

Es gibt Tage, an denen ich keinen Mut mehr habe, weiter zu planen. Trotzdem versuche ich positiv zu bleiben und male mir immer wieder aus, wie gut es bald sein wird, welche Projekte ich bald realisieren werde, und auf welchen großartigen Bühnen ich meine Stücke noch zeigen werde. Ich arbeite gerade an einen neuen Tanztheaterstück zum Thema Odyssee, das im Oktober in Wien Premiere haben soll, und an einem Solo, in dem ich das letzte Jahr künstlerisch verarbeite. Das tut gut und hilft mir, nach vorne zu schauen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Tanz/Theater, der Kunst an sich zu?

Ich denke, dass es für einen erfolgreichen Neubeginn notwendig sein wird, bestehende gesellschaftliche Strukturen gründlich zu hinterfragen und offen für grundlegende Veränderungen zu sein. Theater als Medium, das von der Live-Situation lebt und die Nicht[1]Wiederholbarkeit des Augenblicks repräsentiert, kann bei dieser gesellschaftlichen Neuausrichtung sehr unterstützend wirken.

Unsere (westliche) Gesellschaft ist seit Jahrhunderten geprägt von hierachischen Strukturen, die auf einem dualistischen Weltbild basieren: „richtig sein“ oder „Recht haben“ im Gegensatz zu „falsch sein“ oder „unrecht haben“ ist das Allerwichtigste, um in der Gesellschaft zu reüssieren. Die Auswirkungen dieser jahrhundertelangen Tradition sind deutlich spürbar: die Schere zwischen arm und reich geht weltweit immer weiter auf, wir beuten die Natur aus und zerstören sehenden Auges unseren Lebensraum. Es gibt immer weniger Raum für Zwischenmenschlichkeit und Emotionen. Es geht um Geld, Macht, Erfolg, Status, Aussehen. Die Hierachie gibt uns vor, wie wir sein müssen, um voran zu kommen. Dabei vergessen wir oft, dass wir eigentlich von unserer Natur aus darauf ausgerichtet sind, mit anderen Menschen zu kommunizieren, Einklang zu suchen, uns mit ihnen zu verbinden und auszutauschen.

Die Pandemie lehrt uns auf unbarmherzige Art und Weise, wie abhängig wir alle voneinander sind. Indem sie alle Menschen gleichermaßen trifft, zeigt sie uns, dass in einer Gesellschaft jeder und jede wichtig ist und dass für alle gesorgt werden muss, um das Wohl der Gemeinschaft zu sichern. Unabhängig von Einkommen, Bildungsniveau, Herkunft, Geschlecht, Alter.

„Social-Distancing“ lässt uns schmerzlich spüren, wie wichtig soziale Kontakte für uns sind, wie sehr wir Berührung brauchen oder die (körperliche) Anwesenheit einer geliebten Person. Dinge, die wir oft als unwichtig hintanstellen, da wir uns in einer ununterbrochenen Stressreaktion befinden: egal wieviel wir arbeiten, wie erfolgreich wir sind, wie gut oder jung wir aussehen – es ist nie genug und wir müssen es alleine schaffen.

Ein Neubeginn wird nicht ohne ein grundsätzliches Umdenken auf dieser Ebene stattfinden können. Unsere Gesellschaft braucht einen Paradigmenwechsel: weg von Hierachie und Dualismus hin zu einer Gemeinschaft, in der Diversität, Individualität, unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Ausdrucksformen geschätzt und gelebt werden.

Kunst und insbesondere auch Theater kann und muss bei dieser notwendigen Veränderung unseres gesellschaftlichen Systems eine wichtige Rolle spielen. Und zwar als essenzielles Kommunikationstool, das zwischen verschiedenen Individuen und Gruppierungen innerhalb einer Gesellschaft bzw. auch zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen vermittelt.

Theater ist ein fruchtbarer Boden für den lebendigen sozialen und kulturellen Austausch, den wir so dringend brauchen. Die Live-Theater[1]Erfahrung ist eine Erfahrung, die vor allem auf körperlicher Ebene stattfindet und nicht auf die geistige oder materielle Ebene beschränkt bleibt. Sie verbindet alle Anwesenden – Publikum und Mitwirkende – für die Dauer der Vorstellung auf ganz spezielle Weise. Durch das Gemeinschaftserlebnis werden alle Eindrücke und dadurch ausgelösten Emotionen um ein Vielfaches potenziert, da alle dieselben Schwingungen spüren. Insbesondere Tanz und Musik als non-verbale Ausdrucksformen können Sprache transzendieren, durch das intensive körperliche Erleben Theater direkt emotional erfahrbar machen und auf unbewusster Ebene Veränderungen in Gang setzen.

Was sich meiner Meinung nach innerhalb der darstellenden Künste ebenfalls dringend verändern muss, ist die hierachische Herangehensweise, der Fokus auf die Elite, auf die Stars, die großen Häuser und teuren Produktionen. Der Diversität muss auch hier ein höherer Wert beigemessen werden. Budgets müssen gleichmäßiger verteilt werden. Nicht nur die im letzten Jahr oft zitierten Salzburger Festspiele machen Österreich zur „Kulturnation“. Es sind ebenso die vielen kleinen Kulturinitiativen, OFF-Häuser und Einzelkünstler*innen, die die Theater- und Kulturlandschaft prägen und daher die gleiche Wertschätzung und Anerkennung verdient haben.

Ich wünsche mir, dass diese immense gesellschaftliche Bedeutung von Theater in seiner Vielfalt bei den verantwortlichen Politiker*innen bald ankommt, und dass auch Live-Vorstellungen bald wieder möglich sein werden.

Was liest Du derzeit?

Barbara Clayton: „A Penelopean Poetics. Reweaving the Feminine in Homer’s Odyssey“

Bessel van der Kolk: „The Body Keeps the Score: Brain, Mind and Body

in the Haling of Trauma“

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Wir können uns verstehen, weil wir uns alle in der gleichen Lage  befinden, weil wir alle unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage sind, und weil uns alle trotzdem mehr verbindet als trennt – unsere Bedürfnisse, unsere Sehnsüchte, unsere Angst und unser Hunger.“

– Ariadne von Schirach, „Du sollst nicht funktionieren: für eine neue Lebenskunst“

Vielen Dank für das Interview liebe Nadja, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Tanztheaterprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Nadja Puttner_Tänzerin, Choreografin, Tanzpädagogin

Unicorn Art

Fotos_1 Ingrid Chladek; 2 Unicorn Art

4.4.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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