„Was brauchen wir von der Gesellschaft für gutes Theater?“ Ingala Fortagne, Schauspielerin_Wien 17.2.2021

Liebe Ingala, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Ich stehe zwischen 7.00 und 8.00 Uhr auf, je nachdem wann der Online Unterricht der Kinder beginnt oder ich selbst Termine habe. Das ist eine gute Stunde später als wenn die Kinder zur Schule müssten. Ich bereite Frühstück, schau, was im Haushalt zu tun ist, verabrede mich mit den Kindern, wann wir essen, wer was wann den Tag über zu tun hat…. Letztendlich ähnelt mein Tagesablauf dem vor der Pandemie, wenn ich als freischaffende Sängerin nicht unterwegs sondern zu Hause war. Das Außergewöhnliche für mich ist, meine fast erwachsenen Kinder so viel um mich zu haben, da sie ihrer Lebensphase entsprechend eigentlich viel weniger da sein „sollten“. Das genieße ich, ehrlich gesagt, auch wenn es mir um ihre unbeschwerte Jugend leidtut.

Ich versuche wenigstens einmal am Tage draußen in der Natur zu sein und habe Kundalini-Yoga für mich entdeckt. Durch die fehlende Abwechslung „unterwegs“ zu sein, die Unsicherheit, ob geplante Projekte stattfinden oder abgesagt werden, bin ich noch mehr gefordert, mich jeden Tag auf das zu besinnen, was ich will, wie ich mein Leben gestalten möchte. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass ich mir überhaupt solche Fragen stellen kann und versuche zu erkennen, dass nichts selbstverständlich, jeder meiner Atemzüge ein Geschenk ist.

Ingala Fortagne _ Schauspielerin, Sopranistin, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich mag nicht für alle Menschen sprechen. Jeder steht vor anderen Herausforderungen. Ich merke nur für mich, dass ich das Leben genießen will und niemand etwas davon hat, wenn ich vor mich hin leide, weil durch die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung live Konzerte und Theater gerade unmöglich sind. Ich möchte meinen Geist dehnen, mich öffnen für die Möglichkeiten, die ich als Künstler und Mensch trotz allem habe. Vieles, was ich über unsere Situation, unser Wirken in der Welt lese und höre, verwirrt und ängstigt mich. Ich lasse mich berühren, ohne dass ich eine Lösung weiß. Ich will nicht wegschauen. Dieses Nichtwissen und die Angst, die damit verbunden ist, gilt es auszuhalten. Ich brauche mehr Empathie für mich selbst – wie auch für andere. Mich zwischendurch kurz bewusst hinstellen, die Erde und die Luft spüren, zu guter Musik tanzen, über mich und alles lachen, das schafft Abstand von der Verwirrung und Raum für neue Ideen. Ich brauche den Mut, mich und meine Konzepte zu hinterfragen und mich nicht getrennt von meinen Mitmenschen, der Natur zu erleben.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und
persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt
dabei dem Schauspiel, der Musik, der Kunst an sich zu?

Zu der Frage kann ich nur meinen letzten Gedanken aufgreifen und weiterführen: wir können aufhören, uns getrennt voneinander zu fühlen. Wie ich denke, fühle und agiere hat einen Einfluss auf den gesamten Organismus. Einerseits gilt es unsere Arroganz der Umwelt, unseren Mitmenschen gegenüber und gleichzeitig unsere unendlichen Möglichkeiten, die in uns allen stecken, zu erkennen. Man kann mit jedem Lebensbereich anfangen. Sehr deutlich ist es für mich bei der Nahrung. Weiß ich überhaupt, wo sie herkommt, wie sie hergestellt ist, welche Prozesse nötig waren, bis sie in meinen Mund gelangt? Ich habe eine Verantwortung. Jeder Mensch darf sich dafür sensibilisieren. Ich denke, für diesen Sensibilisierungsprozess u.a. ist Musik und Theater, die Kunst an sich wunderbar und wesentlich. „Von einem guten Theater geht eine Heilkraft für die gesamte Gesellschaft aus“ (sagt Peter Brook, gerade gelesen bei Markus Kupferblum s.u.) Aber was ist gutes Theater? Wo findet gutes Theater statt, was braucht es dafür? Das sind Fragen, die wir uns als Theaterschaffende immer stellen müssen und in der heutigen Krise umso mehr. Dienen die Theaterstrukturen uns noch, was brauchen wir von der Gesellschaft für gutes Theater? Das sind letztendlich Fragen, die jeder in der Gesellschaft in seinem eigenen Wirkungsbereich zu stellen hat: die geschaffenen Strukturen, die eine Zeitlang nützlich waren, zu hinterfragen. Dazu fällt mir die Frage meines Konfirmationslehrers ein: „Eine Verkehrsampel kann eine lebensrettende Einrichtung sein. Aber wenn ich mitten in der Nacht vor einer Ampel stehe, kein Auto weit und breit zu sehen ist, ich dennoch
stehen bleibe, dient mir dann die Ampel oder diene ich ihr?“ Die Sehnsucht nach der archaischen Kraft einer Melodie, nach der lebendigen Darstellung einer Situation auf der Bühne wird es immer geben. Es ist für den Menschen die Möglichkeit, sich berühren zu lassen, sich selber zuzuschauen, sich zu erkennen und über sich zu lachen. Ich habe mich nun einmal dieser Verführung zu berühren, zu sensibilisieren verschrieben und werde weiter mein Leben danach ausrichten.

Was liest Du derzeit?

Verschiedenes, ich lese selten nur ein Buch. Je nach Laune, Stimmung und Muse greife ich nach dem oder dem. Insgesamt komme ich gerade mehr zum Lesen als vor der Pandemie: „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“ Hilma af ; Klingt von Julia Voss, M. Dietrich “Nachtgedanken“ und „Sag mir, dass Du mich liebst“ Briefe zwischen E. M. Remarque und M. Dietrich, A. Polgar „M.- Bild einer berühmten Zeitgenossin“ (alles als Vorbereitung für ein „Marlene“ Programm), „Die Geburt der Neugier…“ von M. Kupferblum, „Im Westen nichts neues“ von E. M. Remarque, „Dying to be me“ von A. Moorjani

Ingala Fortagne _ Schauspielerin, Sopranistin, Schriftstellerin

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Musik aber macht das Herz weich; sie ordnet seine Verworrenheit, löst seine Verkrampftheit und schafft so eine Voraussetzung für das Wirken des Geistes in der Seele, der vorher an ihren hart und verschlossenen Pforte vergeblich geklopft hat. Ja, ganz still und ohne Gewalt macht die Musik die Türen der Seele auf. Nun sind sie offen! Nun ist sie bereit, aufzunehmen. Dieses ist die letzte Wirkung, die Musik auf mich ausübt, die sie mir notwendig macht in diesem Leben. Und so wenig ich mich wasche um des Wassers willen, das ich dazu benötige, so wenig höre ich Musik um der Musik willen.
(Sophie Scholl, Januar 1942)

Vielen Dank für das Interview liebe Ingala, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Schauspiel-, Musikprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Ingala Fortagne_Schauspielerin, Sopranistin

Ingala Fortagne – Sopranistin & Schauspielerin (ingala-fortagne.com)

Fotos_privat.

26.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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