Lieber Karsten, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Für mich hat sich nicht viel geändert. Ich kann zurzeit, wie schon vor der Pandemie, sehr zeitsouverän leben. Für mich als Schriftsteller fühlt sich das gut an, so kann ich frei arbeiten, mir Wege suchen. Obwohl ich schon recht lange schreibe, und bereits vieles ausprobiert habe, bin ich stets auf der Suche nach der besten Tagesstruktur, einer Struktur, in der ich produktiv sein kann. Früher dachte ich, dass ich möglichst viele Sozialkontakte, das heißt den direkten Austausch mit anderen, unbedingt bräuchte, dass ich ohne diese persönlichen Kontakte nicht glücklich sein könnte, aber das hat sich mit der Zeit verändert. Mittlerweile kann ich recht gut mit mir selbst allein sein. Da ich ein visueller Mensch bin und meine Umwelt gerne beobachte, fehlen mir jetzt aber zunehmend Szenen, Ereignisse sowie Blicke und Gepflogenheiten der Menschen. Es fühlt sich alles etwas enger an. Auch das Denken.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Antwort 1: Sich mit Geschichten zu versorgen, sich Geschichten zu erzählen, um den Alltag erträglich zu machen. Allgemein formuliert: Sich den Künsten zuwenden, um dort nach Antworten zu suchen. Die Kunst bzw. die Beschäftigung mit ihr, kann uns lehren, uns leiten. Wenn wir uns schon nicht im Außen bewegen können, dann doch wenigstens im Innen.
Antwort 2: Sich bei Laune halten, sage ich mal so lapidar. Aber auch immer wieder zu versuchen die sich ständig wandelnden Umstände zu begreifen, neue Informationen zu ordnen, zu gewichten, Risiken (für sich und die anderen) abzuwägen, und an eine mögliche und offene Zukunft zu denken.
Antwort 3: Ich spreche nicht gerne für ein WIR. Wer ist denn dieses UNS ALLE? Grundsätzlich glaube ich, dass jeder für sich am besten weiß oder es zumindest herausfinden sollte was zu tun ist. Wobei ich natürlich auch verstehe, wenn Leute ängstlich werden, unruhig werden, sich nicht mehr wohlfühlen ob der akuten Probleme unserer Zeit. Wenn ich eine naheliegende Empfehlung aussprechen darf – dann, dass ich uns allen ans Herz lege, sich bestmöglich auszutauschen, um besser mit etwaigen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten umgehen zu können.
Antwort 4: Eine gefühlte Nähe in der Distanz herstellen.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich bin eher skeptisch was den angesprochenen Aufbruch und Neubeginn angeht. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die Gesellschaft neu erfindet. Dafür sind die etablierten Institutionen und die sehr tief reichenden Werteinstellungen innerhalb der Gesellschaft zu wirkmächtig. Viele Institutionen verfolgen weitestgehend Eigeninteressen. Warum sollten sich diese Interessen plötzlich verschieben? Außerdem bräuchte ein Um- und Neudenken Möglichkeitsräume – dafür müssten Ressourcen freigesetzt werden. Klar ist: Eine Gesellschaft muss den Wandel schon wollen. Diesen Willen sehe ich nicht. Zumindest bisher nicht. Die wirkmächtigen Diskurse verlaufen in alten Bahnen. Welche Rolle der Kunst/der Literatur zukommen? Die Kunst kann sich nur schwerlich durchsetzen. Das zeigt sich immer wieder und leider überall. Wer sollte ihr größeres Gewicht verleihen? Der Kunstmarkt? Die Künstlerinnen und Künstler selbst? Oft ist sie nur Beiwerk. Ich persönlich würde der Kunst innerhalb der Gesellschaft gerne mehr Gewicht und Einfluss geben wollen, denn ich sehe sie als wesentliches Element geistiger Entwicklung und Menschwerdung – auch wenn sich das ein wenig pathetisch anhört. Klar ist: Wir brauchen Menschen in Machtpositionen, die den Wert der Kunst erkennen, diesen Wert dann auch fördern, nur dann wird sich etwas ändern.
Was liest Du derzeit?
Habe „Kindeswohl“, den schmalen Roman von Ian McEwan, neben meinem Bett liegen, lese hin und wieder, aber ich werde nicht so ganz warm damit. Ganz anders erging es mir mit dem kürzlich zu Ende gelesenen Roman „In Transit“ von Rachel Cusk. Dieser Text hat mich schon sehr beeindruckt. Auch darf ich ab und an, und zwischendurch, die Texte meiner Freundin kritisch gegenlesen, das mache ich gerne und mit großer Leidenschaft. Es trifft sich gut, dass wir beide schreiben. Ein anderer (auch fremder) Blick auf das Eigene kann nicht falsch sein. Was das Ureigene angeht: Selbstverständlich lese ich mein in Arbeit befindliches Romanmanuskript wieder und wieder. Streiche Absätze, ergänze Passagen. Hoffe, im Frühsommer den Roman abschließen zu können. Es wird aber auch Zeit.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Vor nicht allzu langer Zeit bin ich auf folgendes Zitat gestoßen: „Wenn ich von Poesie spreche, betrachte ich sie nicht als ein Genre. Poesie ist ein Bewusstsein für die Welt, eine besondere Art, sich auf die Realität zu beziehen. Poesie wird also zu einer Philosophie, die einen Menschen durch sein Leben führt.“ Das Zitat stammt vom Sowjet-Regisseur Andrei Tarkowski, dessen Arbeiten ich sehr schätze. Seine Bildsprache ist außergewöhnlich. Mit Ingmar Bergman gehört er zu meinen Heroen einer eigenen Bildsprache. Ein kurzer Einblick in die besondere Sprache der beiden Filmemacher findet sich hier – in diesem wunderschön gemachten visuellen Essay: https://www.youtube.com/watch?v=Wfbkn21yvr4
Schon sehr früh dachte ich, die Welt ist mehr als nur das rein Sichtbare, rein Hörbare. Es war mir, als wäre da immer noch etwas anderes da, ein Schwingen, ein Öffnen, ein Raum hinter dem Raum, ein Dahinter. Und ja – dieser besondere Blick auf die Welt, die Poesie als Philosophie, geben alldem was ist, und womöglich sein wird, ein Gewicht. Ohne diese Schwere, ohne dieses Ziehen im Leib, würde mir etwas Wesentliches fehlen.
Ich wünsche jedem Menschen die Möglichkeit einer solchen Kunst- und Welt-Betrachtung. Für mich liegt darin, in dieser Erfahrung, ein außerordentlicher Wert. Es ist der eigentliche Impuls zu schreiben, das Leben einzufangen, es greifbar, nahbar und fühlbar zu machen.
Vielen Dank für das Interview lieber Karsten, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Karsten Redmann, Schriftsteller
Foto__Kilian Schreier.
21.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.