„Die Pandemie erzeugt Gewinner und Verlierer und das wahre Gesicht in ganz unterschiedlichen Themen“ Franziska Streun, Schriftstellerin_Thun 15.2.2021

Liebe Franziska, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Mein Tagesablauf ist ein Kreislauf zwischen Tag und Nacht im Homeoffice; unter dem Motto „My Home is my Castle“ mit variablen Knotenpunkten und Entwicklungspotenzialen. Pandemiezeit-bedingt fliessen Minuten, Stunden und Wochentage ineinander, oft ohne erkennbare Grenzen und klaren Konturen.

Franziska Streun, Schriftstellerin

Trotzdem folgt der Tagesablauf gewissen Strukturen.

Nach dem Erwachen bleibe ich gerne für einen Moment im Bett liegen und gehe den Tag in Gedanken und bildlich durch. Einem inneren Justieren gleich. Danach Kraft- und Dehnungsübungen. Meinem Körper und meinem Geiste zuliebe. Manchmal hechte ich auch mit sprudelnden Ideen oder Erinnerungen an Pendenzen aus dem Bett und direkt an den Computer oder zum Notizblock.

Bei Kaffee und Müesli lese ich Zeitungen, notiere Dies und Das. Die Flut an Mails sichte ich je nach Möglichkeit erst zwei oder drei Stunden später. In meinem Atelier schreibe ich dem Zeitbudget entsprechend mehr oder weniger Stunden an meinem neuen Buch, oft auch noch oder wieder spät am Abend. Erstmals ein vollständiger Roman. Er ist mir gleichzeitig Inspiration, Herausforderung und innerer Dialog – ein Balanceakt zwischen Imagination und Ausdauer.

Zwischendurch lese ich in dosierten Mengen Corona-News, halte Ausschau nach überraschenden Zeitungsberichten oder lese in den Büchern weiter, die mich parallel begleiten. Belletristik, Recherchen, Biografien, Sachbücher, was immer. In müden Phasen pausiere ich mit einem Spaziergang am See, alleine oder mit einer Freundin, oder schaue einen Krimi. Mich faszinieren starke Figuren in psychologisch komplexen Geschichten. Dramaturgisch und szenisch gekonnte Regieumsetzungen zu studieren, liebe ich.

Mein Tagesablauf punkto Tätigkeit unterscheidet sich kaum von der Zeit vor „Corona“: Homeoffice als Autorin. Neu hinzugekommen ist dagegen das zusätzliche Homeoffice mit meiner 50-Prozent-Anstellung als Journalistin und Redaktorin mitsamt den unterschiedlichen Diensten. Zudem sind die sozialen Kontakte reduziert und verändern teilweise auch ihre Inhalte. Ich warte darauf, dass die verschobenen Lesungen und andere Anlässe stattfinden dürfen.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ein Rezept, das für alle stimmt, sehe ich keines. Zu unterschiedlich wirkt sich die Pandemiezeit aus, zu unterschiedlich ist die jeweilige Konstellation im beruflichen und privaten Umfeld, zu unterschiedlich sind wir Menschen im Umgang mit uns selbst und dem, was gerade ist.

Als wichtig empfinde ich jedoch zwei Elemente: Zum einen den Fokus verstärkt auf das zu lenken, was möglich ist und uns stärkt. Zum anderen in den unliebsamen Dingen einen Sinn oder Zweck finden, damit sie uns weniger belasten oder es uns leichter fällt, sie zu erledigen. Ein nützlicher Kompass für die Richtung ist mir dabei etwa der Grad meiner Freude.

Als Hilfsmittel wähle ich etwa die Distanz oder den Blickwinkel, mit dem ich das Geschehen beobachte. Die Pandemie erzeugt Gewinner und Verlierer, zeigt Schwächen und Stärken und das wahre Gesicht in ganz unterschiedlichen Themen. Richtig spannend wird es, sobald die vielschichtigen Veränderungen bei uns, im Umfeld und in der Welt fassbar werden und sich zeigen.

Reflektieren, hinschauen und erforschen, was ist, wie ich es mir wünschte und was ich wie optimieren kann, erachte ich als wesentlich. Neugierig bleiben, experimentieren, Ich-Zeit nutzen und in sich selbst und die eigene Entwicklung investieren. Sozusagen als Selbst- oder Überlebensstrategie, um optimistisch und voller Energie bleiben zu können. Und dies trotz zum Beispiel ständig verschobener Lesungen und sonstigen Anlässen, Social Distancing und verringerten Einnahmen, trotz der zunehmenden Ungewissheit, den Tragödien womöglich im eigenen Umfeld oder in der Welt und den ewigen Good-, Bad- und Fake-News rund um die Uhr.

Denn auf unsere aktive Rolle und persönliche Verantwortung für uns, unser Tun oder Nicht-Tun können wir in der Regel direkt Einfluss nehmen. Zwar wandelt die außergewöhnliche Zeit mehr als üblich zwischen Freud und Leid auf dem Grat des Handelns und Akzeptierens. Doch sie ist oder kann auch eine Chance sein – und diese zu sehen und zu nutzen, das können wir alle versuchen. Wenigstens in gewissen Bereichen.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Jeder Tag ist ein endloser Aufbruch. Das Wort Aufbruch trägt die Bewegung in sich. Weil sich alles ständig bewegt. Die Konstellation der Begegnungen, die Komposition der Situation, das Empfinden im Körper. In jeder Sekunde ist gleichzeitig Gegenwart und wird Zukunft gestaltet. Je mehr dabei Unveränderbares – wie zum Beispiel, dass aktuell Pandemie-Zeit ist – und Neues integriert werden kann, desto mehr ist möglich.

Die Natur und das Universum sind in ihrer Vollkommenheit und Vielfalt ein unermessliches, in seiner Gesamtheit unkopierbares Kunstwerk – und von Menschenhand gestaltete Kunst ist ein Ausdruck menschlicher Existenz. Alles, was ist, enthält Kunst; hohe Kunst, ausgedrückte, beeinflusste, improvisierte, wissenschaftliche, experimentelle – und Literatur ist eine von unzähligen Formen im Versuch, das Leben zu fassen. Worte sind Ausdruck von Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen, Wünschen, Abenteuern, Tragödien. Poetisch, philosophisch, dramatisch, wissenschaftlich, kurz oder lang.

Kunst mag rechnerisch für viele Leute wenig bis alles andere als systemrelevant sein, sondern Luxus, Hobby oder Freizeit und in seltenen Fällen ein Investitionsfeld, mit dem sich Geld verdienen lässt. Doch Kunstformen geben Zeitgeist und Geschehen weiter. Als Zeugin und Gesicht von Gegenwart. Ohne menschliche Existenz gäbe es kein menschenkreiertes Wirken. Jeglicher Inspiration gehen Energie und Impulse von lebenden Menschen voraus. Jegliche von ihm gestaltete Form ist im Ursprung ein Ausdruck menschlicher Existenz.

Der Mensch ist ein Kunstwerk des Lebens auf dieser Welt. Alles Lebende ist in seiner gesamten Komplexität ein Wunder, das für andere und oft sogar auch für uns selbst lediglich in Facetten fassbar und ergründbar ist. Um sich zu entfalten, zu erkennen und zu inspirieren oder je nachdem sogar seine Zeit füllen oder innere Leere auffüllen zu können, braucht es Kunst.

Kunst als Folge und Ergebnis von Schaffen, Kreieren, Erzeugen, Erkennen, Mitteilen in unzähligen Varianten ist existenziell – und in diesem Kontext ist Literatur genauso systemrelevant wie jede Form der Kunst und viele andere Dinge.

Was liest Du derzeit?

„Der Apfelbaum“ von Christian Berkel, „Die Schlange im Wolfspelz“ von Michael Maar, „Männer in Kamelhaarmänteln“ von Elke Heidenreich, „Und was hat das mit mir zu tun?“ von Sacha Batthyani, „Das Gedächtnis des Körpers“ von Joachim Bauer und „Die Jahre“ von Annie Ernaux

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Wer zur Kunst keine naive Beziehung hat, das heisst, wer nur durch Edukation dazu gebracht worden ist, Kunst für eine ernste Sache zu halten, wir sich nie damit abfinden, dass das Kunstwerk mehr ist als ein Anlass zur Interpretation. Es ist eine Existenz per se.“ (Max Frisch)

Vielen Dank!

Vielen Dank für das Interview liebe Franziska, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Buchprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

Vielen Dank lieber Walter Pobaschnig – für deine Arbeit und das Interview, die tolle Idee mit den fünf Fragen und dem Universum an Antworten und Gedanken, die dadurch innerhalb der Literaturszene und darüber hinaus ausgetauscht werden können.

PS: Heute ist für mich – rein zufällig am selben Tag, an dem ich dir die Antworten maile – ein Feiertag. Am Mittag sind die Belegexemplare von der 5. Auflage meiner Romanbiografie „Die Baronin im Tresor“, Zytglogge Verlag, eingetroffen.

Gratuliere, liebe Franziska, viel Erfolg weiterhin!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Franziska Streun, Schriftstellerin

www.franziskastreun.ch

Alle Fotos_Franziska Streun

5.2.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

Hinterlasse einen Kommentar