Lieber Wolfgang, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Offen gesagt, unterscheidet er sich glücklicherweise nicht allzu sehr von dem der zurückliegenden Jahre, jedenfalls nicht, seit ich nicht mehr in einer Hörfunk-Redaktion arbeite, sondern nur noch zu Hause … Allerdings haben sich jetzt, in der Pandemie, die Reihenfolge der Dinge und auch die Orte, an denen ich diese „erledige“ verändert. Wenn ich nun (recht früh) aufgestanden bin und den Rechner hochgefahren habe, schaue ich nicht mehr als Erstes in den Mail-Eingang, sondern ich checke die aktuellen Zahlen der Neuinfektionen, in Deutschland und in Tschechien (meine Frau ist Tschechin, einen Großteil des Jahres verbringen wir normalerweise auch in Prag …). So versuche ich, mir das Geschehen und dessen Entwicklung irgendwie begreifbar zu machen, was natürlich nicht gelingt. Es bleibt einfach vor einem stehen, wie eine Schreckenswand.
Habe ich dann die ersten Mails beantwortet, gibt´s ein kleines Frühstück und den Espresso danach, den ich ehedem in einem Café ums Eck trank, nun aus der hauseigenen Maschine. Und die Zeitungen, die ich dabei früher in Papierform zumindest überflogen habe, bringt jetzt in reduzierter Zahl das Tablet ins Haus.
Danach: Rückkehr an den Schreibtisch, die Routine, die stetig Neues bringt. Lesen, lektorieren, korrigieren, recherchieren für einen eigenen Text, erste Skizzen dazu fertigen – und vor allem übersetzen. Da sitze ich zurzeit mit meinem isländischen Malerfreund Jón Thor Gíslason an mehreren Übertragungen isländischer Poesie gleichzeitig; teils feilen wir an letzten Fassungen ganzer Gedichtbände, die im nächsten und übernächsten Jahr im ELIF Verlag erscheinen werden, teils übersetzen wir beispielhaft einzelne Texte aus Neuerscheinungen, um ein Gefühl für das Ganze zu bekommen und es auch Literaturzeitschriften und dergleichen anbieten zu können.
Nach ein paar Pausen (ein kurzes Mahl, ein manchmal längeres Lesen) ist in der Regel dann gegen 19 Uhr „Feierabend“ – mit Nachrichten, Musikhören, Fernsehen, wieder Lesen. Und am nächsten Tag beginnt alles mehr oder weniger genauso aufs Neue. Mit einem Unterschied zu früher: Wenn ich da morgens in mein Stammcafé ging und es war geschlossen, so wusste ich, dass Sonntag war. Dieses Ordnungssystem, die Zeit betreffend, habe ich nun nicht mehr!

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Dass wir uns nicht die Freude und den Mut nehmen lassen! Nicht resignieren, vor dem, was uns und allen anderen gerade geschieht. Natürlich vermissen wir viele lebendige Kontakte, den geistigen Austausch, der so oft auch mit einem Anfassen, mit Berührungen einhergeht, wir vermissen die Umarmungen von unseren Nächsten wie von Freundinnen und Freunden, sei es im familiären und näheren Umfeld, sei es in anderen Ländern, die uns zurzeit ja alle mehr oder weniger verwehrt sind – hier müssen wir gegenhalten, mit Briefen, Mails, Telefonaten, Fotos, mit Video-Botschaften usw. Und zugleich müssen wir uns bewusst machen, dass dies nicht der zukünftige Normalzustand sein darf! All dies ersetzt nicht, was uns das physische Miteinander schenkt.
Und damit wir wieder dahin kommen, gehört es auch zum Mut, einen jeden, der uns begegnet und der sich nicht an die Vorsichts- und Schutzmaßnahmen hält, die geboten sind, um dem Virus die Wirte zu entziehen, unmissverständlich auffordern, dies zu tun und sich und seine Mitmenschen zu schützen!
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich fürchte, gesamtgesellschaftlich werden die Lehren, die man aus den aktuellen Erfahrungen zieht, äußerst gering sein. Da bin ich Pessimist, weil ich zu beobachten glaube, dass bereits seit Jahren jeglicher Gemeinsinn mehr und mehr abhandenkommt … Und wer glaubt, dass das Wort „nachhaltig“ in unserem Wirtschaftssystem etwas anderes bedeute, als dem Zwang zum Wachstum, auf dem es beruht, einen freundlicheren Klang zu geben, ist meines Erachtens naiv …
Es ist also an jedem Einzelnen, zu schauen, wie er die Zukunft für sich sieht und gestaltet. Die Rolle der Kunst, der Literatur (über die traue mich am ehesten etwas zu sagen) ist dabei die gleiche wie immer: Sie lässt uns in fremde Charaktere und Welten schauen, damit wir uns und die Welt, in der wir leben, besser sehen, besser durchdringen können.
Was liest Du derzeit?
Wenn´s nicht ums „berufliche“ Lesen, also ums Beurteilen, Lektorieren usw. geht, bin ich zumeist ein Parallel-Leser, abhängig von der Tageszeit. So habe ich soeben die Lektüre der Erzählungen „Grundlagen Forschung“ von Anke Stelling (tags) parallel zu dem Roman „Der rote Affe“ von Kaśka Bryla (abends) abgeschlossen und parallel zu diesem (tags) „CoDex 1962“ des Isländers Sjón begonnen. Und wenn „Roter Affe“, was sehr bald der Fall sein wird, zu Ende gelesen ist, liegt für den Abend parallel zu Sjón bereits der Roman „Auwald“ von Jana Volkmann bereit.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Wer nicht in der Poesie lebt, der überlebt hier auch nicht.“
Das lässt der isländische Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness im Roman „Am Gletscher“ seinen Pfarrer Jón Primus sagen und meint damit ganz ohne Zweifel nicht nur geschriebene Wörter.
Vielen Dank für das Interview lieber Wolfgang, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Wolfgang Schiffer, Schriftsteller
Wortspiele: Ein literarischer Blog | Streifzüge und Rauchzeichen (wordpress.com)
Foto_privat.
19.12.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.
Herzlichen Dank für deine Fragen, lieber Walter Pobaschnig, und dass auch ich sie beantworten durfte. Hab‘ ein gutes neues Jahr und komm gut durch die Zeit!
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Herzlichen Dank für deine Fragen, lieber Walter Pobaschnig, und dass auch ich sie beantworten durfte! Hab´ ein gutes neues Jahr, komm gut durch die Zeit!
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Hat dies auf Wortspiele: Ein literarischer Blog rebloggt und kommentierte:
Walter Pobaschnig hat gefragt, ich habe geantwortet … Gerne. Denn ich schätze seine Reihe in seinem Blog „Literatur outdoors – Worte sind Wege“, in der er Künstlerinnen und Künstler aller Sparten zu ihrem Tun und Denken in der Zeit der Corona-Pandemie befragt, sehr. Danke, dass ich dabei sein darf!
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Danke für diesen mutmachenden Beitrag
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