„Nicht nur in Zeiten der Übersterblichkeit zielt Schreiben auf Unsterblichkeit ab“ Pino Dietiker_Schriftsteller _ Aarau_26.8.2020

Wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Durch den Lockdown bin ich sesshaft geworden, ich haste nach dem Aufstehen nicht wie ehedem in ein Büro oder eine Bibliothek, sondern setze mich an den Schreibtisch in meiner Wohnung – und staune, wie produktiv ich bin.

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Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Kurzfristig natürlich: Hände waschen, Masken tragen, Abstand halten. Langfristig wünsche ich uns allen, besonders aber der jüngeren und jüngsten Generation eine große Aufmerksamkeit und ein gutes Gedächtnis, denn um die Erinnerungen der letzten Corona-Zeitzeugen wird man sich dereinst reißen. Ich verfolge diese denkwürdigen Zeiten mit einem historischen Interesse an der Gegenwart.

 

 

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur zu?

Ich erwarte weniger einen Neubeginn als vielmehr jenen ›Restart‹, als der die Wiederaufnahme der Fußballmeisterschaften nach der Corona-Pause bezeichnet wurde. Die Literatur wird ihre innovatorische wie ihre konservatorische Funktion behalten: Sie ist für mich Sprachforschung in dem Sinne, dass sie neue Ausdrucksweisen unter Laborbedingungen erprobt, und sie ist mehr als jede andere Kunstgattung berufen, Vergehendes festzuhalten und Vergangenes zum Leben zu erwecken. Nicht nur in Zeiten der Übersterblichkeit zielt Schreiben auf Unsterblichkeit ab.

 

 

Was liest Du derzeit?

Ich las kürzlich »Tage wie Hunde«, Ruth Schweikerts Buch über ihre Krebserkrankung, und vertiefte mich wieder einmal in das Werk von Hermann Burger: Sein Wortbildungsfuror zeitigte neuartige Krankheiten wie die »Unterleibsmigräne« oder den »Morbus Lexis«, auch »Leselosigkeit« genannt, und eine seiner Romanfiguren ist ein »Omnipatient«.

 

 

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

»Ich rühre mich nicht von Rüschlikon – auch der Grippe wegen, die in Zürich noch immer haust«, schrieb Stefan Zweig im Sommer 1918 in einem Brief an seine Freundin und spätere Frau Friderike. Er hielt sich damals für längere Zeit in Rüschlikon bei Zürich auf, und als in der Stadt die Spanische Grippe grassierte, ergriff er dieselben Vorsichtsmaßnahmen, die heute gegen das Coronavirus empfohlen werden: Homeoffice und Social Distancing. Dass man von einem 1942 verstorbenen Autor lernen kann, wie man sich vor der Coronavirus-Krankheit-2019 schützt, ist für mich der ultimative Beweis für den überzeitlichen Erkenntniswert der Literatur. Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind systemrelevant über den Tod hinaus.

 

Vielen Dank für das Interview lieber Pino, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!

 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Pino Dietiker, Schriftsteller

Foto: Roman Gaigg

 

23.7.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

 

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