GIVE PEACE A CHANCE
GRAB NR. 4053
Vor dem Grab Nr. 4053 blieb ich stehen. Hier lag François Bertalot,
75. Infanterieregiment, gestorben am 8. August 1916. Aber woran?
Wir besuchten zum zweiten Mal den großen Soldatenfriedhof Von
Douaumont, der sich unterhalb des Beinhauses Einen halben Kilometer nach links und rechts ausdehnte. Es gab an die 40 solcher Friedhöfe, französische, deutsche, amerikanische, aber der von Douaumont war mit 20.000 Gräbern der größte. Da er im Zentrum des ehemaligen Schlachtfeldes lag, war er die meistbesuchte und gepflegteste Anlage. Wegen seiner Ausmaße beschlossen wir, den Friedhof getrennt zu erkunden.
Die Grabreihen mit den weißen Kreuzen waren durchgehend mit Rosenstöcken bepflanzt, die natürlich so früh im Jahr noch nicht ausgetrieben hatten. Mir fiel auf, dass es keine Unterschiede nach dem militärischen Rang der Toten gab, gemeiner Soldat lag neben Offizier –
eine Praxis, die in anderen Staaten keineswegs üblich gewesen ist.
Die Gräber waren in riesigE quadratische Blöcke eingeteilt. In der Mitte des Friedhofes war eine freie Rasenfläche, deutlich größer als ein Fußballfeld,
darin ragte ein Fahnenmast mit der Trikolore Auf.
Ich hatte mir vorgenommen, zumindest eine ganze Reihe abzusChreiten und die Namen, die auf den Grabkreuzen standen, laut vorzulesen. Aber
nach nicht ganz Einer Viertelstunde gab ich dieses Vorhaben auf. Es waren zu viele. Vor Bertalots Grab blieb ich also stehen. Hier begegnete der Lebende dem Toten.
Wie war er gestorben? Es gab eine Unzahl an Möglichkeiten: Die Kugel eines Scharfschützen mitten ins Herz. Der Stoß eines Bajonetts zwischen
die Rippen. Das Ersticken in einem getroffenen Unterstand. Die GArbe eines Maschinengewehrs. Das Ertrinken nach einem Sturz in den Tümpel am Grund eines Granattrichters. Das Verheddern im Stacheldrahtverhau. Die Glut eines Flammenwerfers. Das Erschossen werden wegen Feigheit vor dem Feind. Die Splitter einer Handgranate. Das Verbluten nach einem Bauchschuss. Das ätzende Gas in den Lungen. Das Versagen eines
überlasteten Chirurgen. Der Schlag mit einer Schaufelkante im Nahkampf. Das VerscHüttet werden durch Artilleriebeschuss. Die Explosion einer Mine. Die Ansteckung mit einer Krankheit, Typhus, Ruhr.
Die von Hand aus einem Doppeldecker Abgeworfene Bombe. Das
Erfrieren im Winter. Das VerdursteN im Sommer. Der Selbstmord aus
Verzweiflung. Und die häufigste TodesursaChe: das Zerfetzt werden durch einen Granatsplitter.
Ich werde nie Erfahren, woran François Bertalot gestorben ist. Ich werde nicht wissen, ob er schnell und gnädig starb oder elend und jämmerlich verreckte. Ob er Zeit hatte um zu beten. Ob er Gott, der all das zuließ, verfluchte. Und ob er, so wie die meisten Soldaten, im Angesicht des Todes nach seiner Mama schluchzte.
Sven Daubenmerkl, 27.1.24

Give Peace A Chance_Akrostichon for peace:
Sven Daubenmerkl, Schriftsteller
Zur Person_ Sven Daubenmerkl, Schriftsteller
Geboren 1965 in Kemnath/Bayern, lebt seit 1977 in Wels/Oberösterreich und seit 1997 in Gunskirchen; arbeitete viele Jahre als Lehrer für Physik, Chemie und Deutsch, jetzt Direktor an der MS Gunskirchen.
Sieben Buchveröffentlichungen, zuletzt „WANDERN IN VERDUN (Gosau 2013).
Literarische Schwerpunkte: Historische Themen, Naturwissenschaften.
Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.
Foto_ privat
Walter Pobaschnig _ 27.1.2024