Liebe Sandra Schößler, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Das Home Office hat dankenswerterweise mehr Flexibilität in den Alltag gebracht. Wenn mich heute der Wecker um 6:30 in den Tag reißt, so kann ich immer noch eine Stunde in Gedanken verbringen, bevor mich um 9 Uhr das erste Online-Meeting erwartet.

Ansonsten bewährt es sich aber für mich, den Brotjob von der künstlerischen Arbeit zu trennen. Ich schaffe lieber Freiräume nach dem „Nine to Five“, in denen die Notizen und Fragmente verarbeitet werden, die sich in kleinen Heftchen angesammelt haben. Diese Büchlein trage ich immer bei mir, um Gedanken aufzuschreiben, Inspiration kann dabei aus vielen Quellen kommen, eine Alltagsbeobachtung, ein Dialog, ein Kunstwerk. Zusätzlich fotografiere ich gerne, die Vogelperspektive finde ich dabei besonders spannend, eröffnet sie doch neue Blickwinkel auf vermeintlich Altbekanntes. Ein Auf-Abstand-Gehen ermöglicht so oft neue Einblicke.

Meine Lieblingszeit zu schreiben ist der Abend, auch weil er eine andere Qualität an Emotionen hervorruft, die in Worte gegossen werden wollen.
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Den Blick auf das Positive nicht zu verlieren. Wir leben in dieser Post-Wohlstands-es-geht-uns-gut- und Bei-uns-ist-Frieden-Zeit. Auch wenn wir nur in Ausläufern (Inflation, Gaspreise etc.) von den aktuellen Kriegen betroffen sind, spielen diese sich dennoch vor unserer digitalen Haustüre ab. Wir haben uns an einen Lebensstandard gewöhnt, von dem wir ahnen, dass er auf die Dauer weder leistbar bleiben noch einer immer größer werdenden Zahl von Menschen zur Verfügung stehen wird. Stattdessen erleben wir tagtäglich das Leid so vieler Menschen hautnah mit. Die Unmittelbarkeit durch die digitalen Medien lässt Grenzen geografischer Entfernung verschwinden und die Schicksale näher rücken, als sie es vielleicht noch auf den Fernsehschirmen in den 80er Jahren konnten.
Nicht an der Welt und den scheinbar ewig wiederkehrenden Schwächen der Menschen zu verzweifeln oder auch zynisch zu werden – das ist für uns alle wichtig.
Eine Gesellschaft kann sich nur verbessern, wenn wir unseren Beitrag leisten, und sei es nur durch eine optimistische Einstellung und das Vertrauen, dass der Mensch aus seiner Geschichte lernen kann – möge es auch im großen Rahmen der gesellschaftlichen Veränderung unseren eigenen Lebenshorizont überdauern. Im Mikrokosmos unseres eigenen Lebens können wir jedoch Veränderung schaffen durch Achtsamkeit und rücksichtsvollen Umgang miteinander. Wenn es um zwischenmenschliche Verantwortung geht, hat Social Media mehr Distanz durch Unverbindlichkeit geschaffen. Wenn es unbequem wird, wird schnell geghostet und die nächste Bekanntschaft ist nur einen Friend Request entfernt.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?
Die Kunst kann Blickwinkel eröffnen, die der rationalen Herangehensweise verschlossen bleiben. Der Mensch als fühlendes Wesen ist aufgerufen, neue Töne zu erschaffen, ob diese nun laut und rebellisch oder leise und im Hintergrund wirken.
Kunst weckt Emotionen und stellt somit Verbindung zwischen Menschen her, auch wenn ihr Erleben zutiefst subjektiv ist. Dort wo wir die Sinnhaftigkeit unserer Existenz hinterfragen, kann die Kunst aus meiner Sicht, Menschen ein besseres Angebot machen als Religionen und spirituellen Lehren mit ihrem Absolutheitsanspruch.
Nur der Kunst gelingt es, die Komplexität unseres Miteinanders in neuen Kontext zu setzen. Wo wir Menschen uns nach einfachen Antworten sehnen, nach der Einteilung der Welt in Gut und Böse, schafft die Kunst Raum für reiche Zwischentöne.

Gedichtauswahl _ Sandra Schößler, Schriftstellerin
Geliebte Ratio
Ratio, du alte Verführerin
In deinem Beisein
Macht und Kontrolle
Unantastbarkeit
Der richtige Ton
Überzeugungskraft
Stakkato der Argumente
Und keiner bietet dir die Stirn
Ratio triumphiert
Baut einen Schutzwall
Stützt dein Korsett
Mit Fischbeinen aus Titan
Und schneidet dich ab
Von deinem Verlangen
Spontaneität erstickt
Japsend liegt Emotion am Boden
Teilzeitfrau
Ich bin eine Teilzeitfrau
Mittwochs und Samstags
Habe ich eine Beziehung
Die anderen Tage bin ich allein
Dann bin ich eine digitale Frau
Im Messenger
Guten Morgen und gute Nacht
Meine Liebste
Ich bin eine Teilzeit Urlaubspartnerin
Für eine Nacht
Zwei sind zu viel
Zu viel Welt für dich
Ich bin eine Teilzeitfrau
Wer sind die anderen Frauen?
Wer ist die Frau,
mit der du nur telefonierst?
Wer ist die Frau,
Die nachts anruft,
wenn wir schon im Bett liegen?
Ich dachte, es ist noch mein Tag.
Loslassen
Eines Tages werde ich dich loslassen
Du wirst ein Artefakt werden
Eine zarte, kostbare Glasfigur
Im Schrank meiner Erinnerungen
Vielleicht nehm ich sie in vielen Jahren heraus
Drehe die kühle glatte Form in meiner Hand
Und wundere mich
Wie ich etwas so Einzigartiges
Aus den Augen verlieren konnte
Der Feigling
Lieber nicht hinsehen
Lieber nicht hinspüren
Lieber nicht
Lieber nicht zulassen
Lieber nicht die Türen öffnen
Lieber nicht
Lieber nichts riskieren
Lieber nicht lieben
Lieber nicht
Oder doch lieber?
Was liest Du derzeit?
Judith Hermann, „Wir hätten uns alles gesagt“.
Und immer wieder gerne zwischendurch Gedichte von Alexander Peer, z.B. „Der Klang der stummen Verhältnisse“
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ich mag das Zitat von Max Reinhardt „Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers, sondern Enthüllung.“
Ich denke, diese Aussage trifft für alle Kunstschaffenden zu, vielleicht sogar für alle Menschen, zumindest jene, die sich auf die Suche begeben. Nur wenn ich mich mit meinem authentisches Selbst auseinandersetze, kann etwas entstehen, dessen Ergebnis mich am Ende des Tages vielleicht selbst überrascht.

Vielen Dank für das Interview, liebe Sandra, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler:innen:
Sandra Schößler, Schriftstellerin
Zur Person _ Sandra Schößler, Schreibende. Geboren 1972 in Wien. Sie studierte Psychologie und Wirtschaft in Wien und London. Lebte vier Jahre in Hamburg und arbeitet als UX Designerin in einer Digitalagentur in Wien.
In ihrer Freizeit schreibt sie Gedichte und arbeitet an einem Roman.
Fotos_ privat
Walter Pobaschnig _ 7.1.2024
Fantastische Gedichte einer wirklich wunderbaren Frau. Ihre Worte berühren, rütteln wach und enthüllen. Ich bin stolz, sie als Freundin zu haben!
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