„die seligen Inseln der Erinnerung sind nur Eisschollen in der Sonne“ Hans-Haiko Seifert, Schriftsteller _ Dresden 10.8.2023

Lieber Hans-Haiko Seifert, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Jetzt? Die Frage interessiert sich doch gewiss für einen Trend und der Trend sieht seit jeher so aus, dass die kreativen Stunden am Abend sind. Und ihnen widme ich das Schreiben.

Davor liegt das Tagwerk, das das Leben sichert für alle, die davon abhängig sind. So habe ich es von Herzen gern.

Hans-Haiko Seifert, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Jetzt? Wie seit Jahrtausenden schon und womöglich in Jahrtausenden immer noch. Gerechtigkeit, Solidarität mit Schwachen, Rücksichtnahme und mit Beharrlichkeit nach Aufklärung streben, um Parolen zu widerstehen. Die sind in der Tat die größte Bedrohung unserer Zeit. Daran sollte Literatur gelegentlich erinnern.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Jetzt und nicht nur heute: Dass nichts bleibt wie es war. Das Beständige ist der Wandel. Man kann sich zwar sehnlichst wünschen, dass sich bitte nichts ändern möge, aber die seligen Inseln der Erinnerung sind nur Eisschollen in der Sonne. Ist so. Daran sollte Literatur gelegentlich erinnern.

Was liest Du derzeit?

Meist zu Recherchezwecken. Aber gerade das Kapitel Der Großinquisitor aus Brüder Karamasov. Eigentlich dient es ja auch der Recherche zu meinem neuen Projekt. Der verurteilte Jesus.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Aus meinem (noch unveröffentlichten) Roman Joanna, aus dem Kapitel Johannisnacht, das ich gerade besonders liebe, weil dort auch Sommer ist:

„Die Blume in deinem Haar, Joanna.“

„Ja, eine Kornblume aus Opa Henryks Strauß.“

„Die blaue Blume“, flüsterte ich.

Sie rieb ihren Kopf ganz sanft an meinem Gesicht.

„Wie? Die blaue Blume?“

„Heute ist diese Johannisnacht, Joanna?“

„Ja, die ist heute. Du weißt es doch.“

„Letzten Herbst hab ich bei Novalis gelesen: Wenn du am Johannistag gegen Abend wieder hierher kommst, so achte auf ein blaues Blümchen. Du kannst es hier finden. Ich weiß nicht mehr genau, es sollte das Glück bringen, so etwa.“

„Und du hast es vergessen, das blaue Blümchen, über das Jahr?“

„Nein, ich hab es nie vergessen, aber ich hab nicht gewusst, wann das ist: Am Tage Johannis“.

„Das ist also heute, Georg.“

Die Nacht war voller Geräusche. Hundebellen, gereiztes Rufen. Das Schnauben von Pferden. Die russischen Schimmel ganz sicher. In der Ferne stritten zwei betrunkene Männer, bis auch das aufhörte. Von irgendwoher die Erkennungsmelodie der Spätnachrichten, dann nur noch das Gezirp von Grillen oder war es das Gesirre der Sterne über den Büschen. Bis in der Ferne der Nachtzug nach Warschau vorbeiratterte, durch die Heide, die blühende Heide.

„Georg?“

„Ja.“

„Morgen geht Jacek nach Düsseldorf?“

„Ja.“

„Morgen ziehe ich zu dir.“

Foto_privat

Vielen Dank für das Interview lieber viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

Hans-Haiko Seifert, Schriftsteller

5 Fragen an Künstler*innen:

Hans-Haiko Seifert, Schriftsteller

Zur Person_Vita _Hans-Haiko Seifert, Schriftsteller

Ich wurde 1960 in Dresden geboren, legte das Abitur zusammen mit einem Berufsabschluss ab und nutzte die nächste sich bietende Möglichkeit, ins Ausland zu gehen – zum Studium der Biomedizintechnik an den entferntesten aller damals erreichbaren Orte die mich interessierten, nach Warschau. Ohne es zu ahnen verbrachte ich bald zwei Jahre
im Auge der Weltgeschichts-Wirbelstürme. Dieses Abenteuer mündete nahtlos in den Dienst bei der NVA, gerade rechtzeitig, um an der polnischen Grenze im Dezember 1981 anlässlich des Kriegszustands in Polen in Alarmbereitschaft versetzt zu werden. Ich beendete schließlich mein Studium in Dresden, fand eine Zeit lang Gefallen an wissenschaftlicher Arbeit zu Themen der Künstlichen Intelligenz und begann vor 20 Jahren in der IT-Abteilung eines großen Energieversorgers.

Neben dem Brotberuf: Schreiben für die Schubladen, viele Jahre Theater mit der Theatergruppe Traumtanz, ein paar Jahre Theaterkritiken, etwas Malerei, neuerdings viel
Musik und nun endlich wieder Schreiben, seit fünf Jahren ohne Unterlass. Dabei ist das
Manuskript mit dem Titel Joanna entstanden, das Episoden aus der Warschauer Zeit zum Thema hat.

Seit einiger Zeit arbeite ich an neuen Projekten. Eines ist schon gut fortgeschritten und erzählt von einem, der eines Tages in einem Gebirgsdorf auftaucht und für den Nachfahren jener zugereisten Walen gehalten wird, die vor 500 Jahren dort unermessliche Schätze ausmachten und diese für spätere Zeiten mit geheimen Zeichen markierten. Daraus ergeben sich überaus tragische Situationen, die aber stets auf komische Weise gelöst werden

Fotos_privat

27.7.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

Ein Gedanke zu „„die seligen Inseln der Erinnerung sind nur Eisschollen in der Sonne“ Hans-Haiko Seifert, Schriftsteller _ Dresden 10.8.2023

  1. Das Wagnis, die blaue Blume zu suchen, fordert immer wieder neue Anläufe, Rückläufe, auf jeden Fall laufen und drauf achten, dass sie überall aufblinkt und sich nie ganz zeigt, denn das Suchen ist wichtig und nicht das Ideal zu erreichen, sondern nach ihm zu streben

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