„Kunst löst keine Widersprüche, sondern macht sie erst sichtbar“ Rudi de Mello, Regisseur, Autor _ Berlin 6.7.2023

Lieber Rudi de Mello, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Als freischaffender Künstler arbeite ich parallel an mehreren Projekten, bei denen ich mehrmals täglich unterschiedliche Positionen einnehmen und flexibel die „Seiten wechseln“ können muss: vom Regisseur zum Schauspieler, vom Produktionsleiter zum Autor und Dramaturgen.

Bei all den professionellen Verpflichtungen, den gewissensbissigen Deadlines, der nie zu Bett gehenden Kommunikation und der Koordination des Chaos, versuche ich dem verlockend klingenden, aber dann letztendlich doch eher trockenen, steuerrechtlichen Begriff des „freischaffenden Künstlers“ Fleisch und Sinnlichkeit zu verleihen: jeden Tag suche ich in allen Tätigkeiten Frei-Räume, um schöpferisch sein zu können. Das macht für mich die Attraktivität eines solchen Tagesablaufs aus.

Rudi de Mello, Schauspieler, Regisseur, Autor und Dramaturg

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Wir sollten jetzt nicht vergessen, dass wir bei all der Unterschiedlichkeit, auf die wir uns bezüglich unserer Meinung, unserer Herkunft, unserer Religion, unseres Geschlechts und unserer Sexualität berufen, letztendlich alle „nur“ Menschen sind. Positiv ausgedrückt: Für sehr wichtig halte ich das Besinnen darauf, dass wir im Denken, Fühlen, Wollen und Hoffen mehr Gemeinsamkeiten haben als Unterschiede oder dass uns zumindest als Spezies eine Dramaturgie der Koordinaten „Denken“ – „Fühlen“ – „Wollen“ – „Hoffen“ definiert. Diese Art von Verbundenheit ist eine wunderschöne und aufregende Sache, wie ich finde.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Ich beobachte zurzeit im Weltgeschehen einen salonfähig gewordenen aufklärerischen Impetus, die Aufklärung austreiben zu wollen. Und ich hoffe, dass uns das eines Tages nicht um die Ohren fliegen wird. Und das vielleicht sogar früher noch als all die prognostizierten, den Menschen in seiner Existenz bedrohenden Katastrophen. Der gerade sehr präsente Widerspruch, dass sich die Aufklärung selbst aushebelt, reiht sich ein in die Liste der vielen Widersprüche im menschlichen Dasein. Und Kunst war seit jeher sehr gut darin, latente Widersprüche im menschlichen Dasein sinnlich erlebbar zu machen.

Bedenklich finde ich daher die derzeitige, selbstverständlich gewordene Instrumentalisierung der Kunst durch das Politische, bei der die Kunst beginnt, eine politische Rolle zu spielen. Kunst sollte in diesem Sinne keine Rolle spielen, sondern sollte, nicht nur im Theater, Rollen spielen und unterschiedliche Perspektiven als ästhetisches Erlebnis aufeinanderprallen lassen. Kunst ist weder ein psychologisches noch ein soziales noch ein politisches Heilmittel. Kunst löst keine Widersprüche, sondern macht sie erst sichtbar.

Was liest Du derzeit?

Derzeit lese ich C. G. Jungs Texte über die Archetypen, Texte über die Genese der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und Texte zur Mythen-Theorie, da ich mitten in einem künstlerischen Rechercheprojekt stecke, das vom Fonds Darstellende Künste gefördert wird: In „MetaMythos“ gehe ich im urbanen Raum Berlins auf die Jagd nach „neuen“ und noch verborgenen Archetypen, die ich in den Träumen der Großstadtbewohner:innen, in sogenannten „urban legends“ und in mündlich überlieferten Gutenacht- und Lagerfeuergeschichten suche. Daher lese ich gerade auch sehr viele interessante Träume und noch nie gehörte, märchenhafte Geschichten und hoffe, in den kommenden Monaten noch sehr viel mehr davon lesen zu können.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen.“ – Aristoteles

Vielen Dank für das Interview lieber Rudi, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Theater-, Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an Künstler*innen:

Rudi de Mello, Schauspieler, Regisseur, Autor und Dramaturg

Zur Person_Rudi de Mello, 1981 in Havanna (Kuba) geboren, lebt in Berlin. Er absolvierte ein Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der TU Berlin. Seit über 20 Jahren ist er international als Schauspieler, Regisseur, Autor und Dramaturg an verschiedenen Theatern und Kulturinstitutionen tätig. Er ist leidenschaftlicher Lyriker, erdenkt und organisiert Lesungen (u.a. ÜBERGÄNGE, UNTERFÜLLE) und liest selbst auf Lesungen (u.a. bei Textur 4: UNTERWEGS).

Schauspiel: u.a. AMERIKA! (PARKAUE – Junges Staatstheater Berlin, 2009), EinzigArtig (Museum für Naturkunde Berlin, 2017) / Dramaturgie: u.a. Thinking Out Of The Shadow – Das Platon-Projekt (HAU, 2014), Rom*nja City Reloaded (Volksbühne Berlin, 2022) / Regie: u.a. Dead. End. Paradise. – Dantes Göttliche Komödie (jtw spandau, 2019), POPOL VUH (jtw spandau, 2020).

Foto_privat.

6.6.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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