„Wir brauchen endlich sozial hoch kompetente Menschen in Führungspositionen“ Heide Maria Hager, Schauspielerin _ Wien 4.6.2023

Liebe Heide Maria Hager, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Nach dem Aufstehen geh ich im Moment entweder in den Unterricht (ich unterrichte in der Schule des Sprechens – ich gebe dort Coachings für Führungskräfte, Politiker, Menschen, die viel sprechen müssen im Bereich Sprechtechnik, Atem, Stimme), oder ich spreche im homestudio für Miri TV Geschichten ein, oder auch für die Hörbücherei des Blindenverbandes – oder ich recherchiere. Ich recherchiere einerseits für eine Ingeborg Bachmann Veranstaltung, andererseits für eine Tournee, die wir mit dem Stück „Das rote Fahrrad“ von Fred Apke planen. Dieses Stück lief heuer unglaublich erfolgreich im Theater Arche, und es gehört – auch laut den vielen Publikumsreaktionen – weiterhin auf die Bühne. Wie es aussieht, werden wir es im Herbst 2023 im Theater Arche wiederaufnehmen. Ab und zu absolviere ich Castings für Werbung und Film.

Am Abend geh ich im Moment viel ins Theater, es finden ja gerade die Wiener Festwochen statt. Außerdem schau ich mir auch immer gerne Kolleg*innen auf der Bühne an. Am Wochenende sorge ich dafür, dass ich in die Natur komme und Zeit mit Familie und Freunden verbringe. Vor kurzem war ich 12 Tage in der Toskana wandern, das Gehen in der Natur macht den Körper fit wie nichts sonst, den Kopf leer, das Herz und die Seele weit.

Heide Maria Hager, Schauspielerin, Sprecherin, Trainerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

HUMOR, feiern und Zusammenhalten – das ist nicht nur jetzt wichtig. Wir müssen unbedingt jede Gelegenheit nützen, um zu lachen und zu feiern. Und bitte sich nicht vereinzeln lassen. Sich nicht auseinanderdividieren lassen – von welcher Obrigkeit auch immer. Immer wieder nach Austausch streben, Kontakt zu anderen suchen. Die Unterschiede aushalten lernen statt allzu schnelle Urteile zu fällen – kommunizieren lernen, wenn es Probleme gibt. Ich denke, Corona hat bei einigen dafür gesorgt, sich mehr in sich zurückzuziehen, bzw. sich mehr in gewohnten communities zu bewegen. Die Neugierde auf die Diversität des Lebens hat gelitten. Diese muss man ja auch üben; sich auf Neues, Anderes einzulassen, bedeutet unter Umständen, eigene Gewohnheiten nicht an die erste Stelle zu positionieren. Das ist ja auch nicht immer leicht, oder schlüssig. Gleichzeitig finde ich es sehr wichtig, auch gesunde Grenzen ziehen zu lernen. In dem Moment, wo ich mich überfordert fühle, meine innere Balance außer Lot gerät, muss ich auch „nein“ sagen dürfen.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Hmmm…Aufbruch…mir kommt das gar nicht so „neu“ vor. Hat es diese „Aufbrüche“ nicht schon immer irgendwie gegeben? Der rasant ablaufende technische Fortschritt, fordert uns in der jetzigen Zeit im Besonderen heraus, denk ich. Nicht jeder ist technisch am gleichen Stand – dadurch passiert Ausgrenzung. Das Tempo, indem sich Arbeitsabläufe heutzutage abspielen, ist unglaublich. Da braucht es an der richtigen Stelle Entschleunigung, denn der Körper kommt da oft nicht mehr mit, ist überfordert, reagiert mit Krankheit oder sonstiger Störung. Auch der Geist kann sich ganz schön verwirren, und sucht oft nach einfachen Lösungen – oder lenkt sich ab.

Ich glaube regelmäßige RUHE, STILLE täte vielen gut. Zeit mit sich verbringen. Ohne Ablenkung, ohne Informationsquelle von außen. Die innere Stimme ist oft sehr leise, und ist für mich persönlich eine wichtiger Orientierungsgeber. Auch intelligente Arbeitsabläufe sind not-wendig, neue Systeme, wie wir miteinander besser kooperieren. Weg von der Konkurrenz, hin zur Kooperation. Soviel ich weiß, gibt es hier geniale Ansätze unter Einbindung flacher Hierarchien.

Durch Förderung von mehr Eigenverantwortlichkeit der Arbeitnehmer*innen und auch finanzieller Mitbeteiligung am gemeinsam erwirtschafteten Gewinn, wird mehr Eingebundensein ins Firmengeschehen und dadurch auch mehr eigene Wirkmacht erlebt. So wird Fleiß und Eloquenz belohnt und nicht nur von allen konsumiert. So etwas kann beitragen, Sinn zu stiften.

Die Sinnfrage ist glaube ich ohnehin die große Frage: warum, wozu mach ich, was ich mache? Ich träume von einer Gesellschaft, die kleinteilig so  funktioniert, dass es völlig klar ist, bei Problemen hin zu schauen und gemeinsam an der Lösung zu arbeiten, statt sich in Machtkämpfen zu verzetteln.

Wir brauchen endlich sozial hoch kompetente und emotional intelligente Menschen in Führungspositionen. Echte Vorbilder. Gendergerechtigkeit, gleiche Löhne für gleiche Arbeit – die alte Leier. Gelebter Feminismus, der sich bitte dann überall auswirken muss: im Lohn, in der Architektur, im Städtebau, in der Erziehung, in der Forschung, in der Medizin, usw. Wir brauchen vielleicht auch klar definierte Werte, da bleibt die Frage, wer sie vermitteln soll, wenn das Elternhaus aussetzt: – Wieso lohnt sich Ehrlichkeit? Warum sollte man aufrichtig sein? Wieso zahlt sich, auf lange gesehen, Trickserei nicht aus? Wem schade ich, wenn ich den Weg des geringsten Widerstands nehme? Wozu ist Höflichkeit gut? Wie wirkt sich mein Handeln auf andere aus? Kann ich Kritik vertragen?

Mich persönlich interessiert immer auch der Forschungsstand, etwa dass die Nobelpreisträgerin für Physik 2020 Andrea Ghez sagt, dass die Physik an der Grenze des Erforschbaren angekommen sei. Und darüber hinaus aber etwas existiere, das nicht messbar sei. Oder die Quantenphysik, die eigentlich Unbegreifliches beschreibt – was machen wir als aufgeklärte Kultur mit dem (noch?) nicht Erklärbaren? Was ist überhaupt der Sinn des Lebens? Kunst kann dies nicht beantworten, aber zumindest helfen, Eigenreflexion zu erhöhen. Denn um bewusst zu handeln – braucht es bewusstes Auseinandersetzen. Mit sich, mit den anderen, mit „dem Leben“ an und für sich.

Kunst – egal in welcher Form – hat die Möglichkeit Räume in unser Unbewusstes zu öffnen, Räume und Realitäten, die im schnellen Alltag sonst untergehen. „Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele“, wie Picasso für mich sehr stimmig sagt. Kunst stöbert im Allgemeinen, bevor es spezifisch wird. Somit ist Kunst meistens auch echter Ausdruck ihrer Zeit. Sie kann mithelfen, die richtigen Fragen zu stellen – vielleicht sogar Antworten zu finden. Sie kann ganz unvermittelt berühren und dadurch Verbindung zueinander herstellen. Frida Kahlo sagt: „Ich male Blumen, damit sie nicht sterben“. Angesichts unserer menschlichen katastrophalen Einwirkung auf die Erde, sogar ein sehr pragmatischer Satz, wobei er so nicht gemeint ist, denke ich.

Wenn ich in der Probe auf der Bühne stehe und eine Figur sich aus mir heraus schält, dann gebe ich einen Teil von mir preis. Es öffnet sich in mir ein Raum, ein Fenster, in dem ich mir manchmal selber beim Entstehen von Abläufen zusehe. Bei diesem Schauspielprozess ist also nicht alles bewusst geschöpft, und doch tritt das Ergebnis bewusst zu Tage. Ein magischer Vorgang. Erst recht, wenn dann noch Publikum zuschaut. Dann bekommt oft das in mich hineingehen und von dort wieder heraus eine fordernde Unbedingtheit. Kunst wohnt zuweilen eine Dringlichkeit inne, ein „es tun müssen“, ob sie nun verstanden wird, oder nicht, ob es Publikum dafür gibt oder nicht. Man denke nur an Van Gogh, der in seinem Leben nur ein einziges Bild verkaufen konnte und doch wie wild weiter gemalt hat. Kunst schärft die Sinne und den Verstand. Aber Vorsicht: auch die Kunstschaffenden müssen sich den narzisstischen Fallen bewusst werden, die in uns alles wohnen. Allzu persönlich gefärbte Ergüsse, die nicht ins Allgemeine zu weisen wissen, interessieren mich persönlich schon lange nicht mehr.

Was liest Du derzeit?

„Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer, da muss ich noch ein bisschen hineinfinden, die Geschichte lässt mich aber sehr dranbleiben. Die Dramatisierung wird derzeit übrigens im Burgtheater im Kasino aufgeführt.

„Wovon wir leben“ von Birgit Birnbacher hab ich soeben beendet und muss es dringend empfehlen! Eine ganz und gar unaufgeregte, tiefe, geradlinig erzählte Geschichte, die sehr viele Frauenthemen aufgreift. Und sie interessant abspinnt.

„Ein Zimmer für sich allein“ von Virginia Woolf. In einem durch gelesen – eine dringende Empfehlung für Frau und Mann, ein Klassiker. Immer noch gültig, leider.

Und ja: die Bibel lese ich stetig. Von vorne bis hinten. Ich habe mich durchgerungen, sie bildet einen Grundstock unserer Kultur, und ich will mich eigenhändig kundig machen darüber.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst in der Welt.

Mahatma Gandhi

Trotz allem glaube ich an das Gute im Menschen.

Anne Frank

Heide Maria Hager, Schauspielerin, Sprecherin, Trainerin

Vielen Dank für das Interview Heide Maria, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

Heide Maria Hager, Schauspielerin, Sprecherin, Trainerin

Zur Person_Heide Maria Hager, Schauspielausbildung in Wien, Staatliche Prüfung, Engagements u.a. Kammerspiele Hamburg, Kleines Theater Salzburg, Studiobühne Villach, Schauspielhaus Wien, sämtliche freie Bühnen in Wien, internationale Theatertauftritte mit Teatro caprile.

Letzte Theaterproduktionen: „tageslichtlinie – Eine Homage an Elfriede Gerstl, „Ins gelobt Land – In Memoriam Marko Feingold“,  „7 Todsünden“,  „Andorra“, „Das rote Fahrrad“, Elfriede Nöstlinger – Szenische Lesung

Letze Filme: „Strawberry Moments“, „Wieviele bist Du?“,  „Janus“,  „Der Erbsenzähler“,  „Vienna“, 2020,  „Tatort – Alles was recht ist“, „Dunkle Wasser – Salzburg Krimi“, „Vikinger“, „Steirerkrimi“, „Fahndung Österreich“

Ausbildung zur Theaterpädagogin, Unterrichtstätigkeit in der Schule des Sprechens, Hörbuchsprecherin für den BSVÖ, Sprecherin für Miri TV und Loftfilm München

Homepage:

www.heidemaria-hager.at

Fotos_Christian Dungl und Raphael Stompe

22.5.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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