Liebe Frau Tistic, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Hoffentlich immer gleich: Um 7 Uhr klingelt der Wecker, oder eines der Kinder schon früher. Kinder (und Tiere) werden versorgt, Kinder gekleidet und ihre Taschen vorbereitet. Ich mache Frühstück und Pausenbrote und dann werden alle in Kindergarten und Schulen verteilt.
Gegen 9 Uhr sitze ich an meinem Platz. Ich bin ein Morgenmensch, dh. kreativ arbeite ich nur am Vormittag. Ich arbeite grundsätzlich in Projekten, momentan sind es mehrere denen ich mich widme. In der Regel schiebt sich immer eines der Kunstprojekte in den Fokus und lässt mir dann Monate, manchmal Jahre keine Ruhe, während alles andere drum herum mehr oder weniger zum Stillstand kommen kann. Wenn ein neues Projekt mich findet, kann ich kaum noch an etwas anderes denken (und meine Familie seufzt). Seit letzter Woche gibt es nun Frau Tistics Seite und ich freue mich sehr auf die Beiträge, die ich dafür schreiben und recherchieren darf (die Familie seufzt wieder). https://www.facebook.com/FrauTistic/
Am Mittag mache ich manchmal noch etwas Sport, bevor ich nachmittags dann die Kinder abhole, koche, den Haushalt werfe.
Gegen 21 kehrt im ganzen Haus Ruhe ein, ich lese oder sehe fern, das ist für mich notwendig, um das System herunterzufahren und abzukühlen.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Wichtig wäre damit zu beginnen, vielmehr dahin zurückzukehren, uns als immanenten Teil dieser Erde zu begreifen und, dass alles auf ihr miteinander in Verbindung steht. Wir mit dem Rest, der Rest mit uns, aber vor allem auch wir mit uns. Ich mag das Bild, dass unsere Atmung uns alle miteinander verbindet, wir atmen alle dieselbe Luft, ich atme aus, du atmest mich ein, du atmest uns aus, der/die nächste atmet uns ein – uns alle füllt dieses eine Element, dass wir immer und immer wieder berühren und weiterreichen. Ich finde, wer sich das einmal in seiner letzten Konsequenz vorgestellt hat, diese Verbindung, kann nicht mehr auf die Idee kommen z.B. das Nachbarland anzugreifen. Wichtig wäre also, dass wir beginnen diesem gemeinsamen Atemgeräusch zu lauschen, uns gegenseitig zuzuhören, und dabei schließe ich alles Leben mit ein, uns allen zuzuhören. Im Zuhören gründet Verstehen und im Verstehen liegt Fürsorge. Uns gegenseitig zuhören, dieser Welt zuhören, verstehen und beginnen für uns zu sorgen.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?
Die Kunst ist für mich ein Wesenszug des menschlichen Seins. Kunst zu schaffen und zu konsumieren, gehört für mich also zu den menschlichen Grundbedürfnissen, wie Nahrungsaufnahme oder Schlaf. Natürlich kommt diesen anderen beiden zunächst eine scheinbar wichtigere Rolle zu, doch selbst in den schwärzesten Momenten der Menschheit, in größter Armut oder unter schlimmsten Terror, hat der Mensch von Anbeginn der Zeit niemals aufgehört Kunst zu schaffen. Weil sie Teil unseres Seins ist, das Bedürfnis nach Ausdruck unserer Erfahrungswelt. Anders formuliert und damit zur Eingangsfrage zurückgekehrt: „Die Kunst ist die höchste Form von Hoffnung.“ Gerhard Richter
Was liest Du derzeit?
Sexographies, Gabriela Wiener, Random House
ROSA IN GRAU, Simone Scharbert, Edition Azur
Timo Brandt, Nachumahmungen, Aphaia Verlag
Unser Deutschlandmärchen, Dinçer Güçyeter, Mikrotext
22 Things a Woman with Asperger’s Syndrome Wants Her Partner to Know, Rudy Simone, Jessica Kingsley Publishers Ltd
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
No need to hurry, no need to sparkle, no need to be anybody but oneself. Virginia Woolf
Vielen Dank für das Interview liebe Frau Tistic, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Frau Tistic, Künstlerin
Zur Person_Frau Tistic hatte gerade erst Geburtstag, im Sinne des Wortes, sie kam gerade erst auf die Welt. Sie ist Künstlerin und neurodivers, neurotisch, exotisch, Aspergerin, Ängstlerin, Angeberin, obsessiv, naiv, aktiv, dativ, manchmal vielleicht fantastisch, aber sicher immer autistisch. Frau Tistic schreibt über das Frausein. Mit Autismus. Ohne Autismus. Das Frausein als Mutter. Als Künstlerin. Als Alternde. Als Alberne. Frau Tistic zieht jede Woche Themen, Interviews, Artikel, Studien, Menschen aus ihrem Koffer und fasst das jeden Freitag zusammen, zu einer Art Wochenschau, vielleicht auch Nabelschau, wir werden sehen. Frau Tistic selbst sieht nicht mehr so gut, sie lebt und liebt irgendwo in den Vierzigern, hat Kinder und ein Leben vollgestopft bis oben hin, wie der Koffer, den sie mitschleppt. Und bis oben hin hat sie manches auch satt, auch darüber will sie schreiben, manches reicht ihr dermaßen. Manches nicht. https://www.facebook.com/FrauTistic/
Foto_privat
15.5.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.