Lieber Gisbert Amm, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Montag bis Donnerstag arbeite ich von neun bis fünf in meinem Brotberuf als Softwareentwickler; seit der Pandemie ausschließlich im Home Office, was mir drei Stunden Pendelei am Tag erspart. Vorher musste ich nach Berlin ins Büro fahren. Insofern bin ich ein Pandemie-Gewinnler.
Abends wird gelesen, und geschrieben oder ich gehe raus in die wunderbare Eiszeitlandschaft der Schorfheide mit ihren Hügeln und Seen. Oder ich fahre dann doch nach Berlin, meist zu Lesungen.
Freitags arbeite ich nicht, so dass der Tag theoretisch ganz dem Schreiben vorbehalten ist. Aktuell bin ich aber immer noch mit der Abwicklung des Lyrikhauses beschäftigt, so dass nur wenig Kraft und Zeit für das eigene Schreiben bleibt. Aber das wird sich im Laufe der nächsten Monate ändern. Solange bleibt es beim ungesunden Schlafmangel, weil ich oft unter der Woche doch bis ein oder zwei Uhr nachts mit Schreiben und Lesen beschäftigt bin. Eine typische Eule eben.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
2023 ist das Jahr der künstlichen Intelligenz. Diese wird unser Leben auf ähnliche Weise umkrempeln wie es die Smartphones und die fortschreitende Digitalisierung getan haben und noch immer täglich tun. Wenn man unser heutiges Leben mit dem vor 15 Jahren vergleicht, als das Smartphone noch als Spielzeug von ein paar wirren Displaystreichlern belächelt wurde, kann man erahnen, welche Umwälzungen in den nächsten 15 Jahren auf uns zukommen. Nur dass diesmal auch der Aspekt der künstlerischen Produktion unmittelbar betroffen ist. Ich gehöre allerdings nicht zu jenen, die das prinzipiell ablehnen. KI wird ein neues Werkzeug für den Menschen werden und neue Dinge ermöglichen, die wir uns noch wenig vorstellen können. Ähnlich wie das Anagrammieren sich durch den Computer verändert hat. Ich habe ja noch Pappkärtchen herum geschoben.
Der Mensch wird stark auf die Frage zurückgeworfen, was ihn eigentlich zum Menschen macht. Und dabei spielt die Körperlichkeit eine zentrale Rolle. Wie es Andreas Gryphius formuliert hat: „Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen“. Der körperliche Schmerz, den die Maschine nicht empfinden kann, macht uns zum Menschen. Aber natürlich auch die schönen Gefühle.
Gleichzeitig mit dem enormen technologischen Umbruch feiern archaische Gewalt- und Zerstörungsmuster in Politik und Gesellschaft fröhliche Urständ. Das ergibt eine explosive Kombination, die mir große Sorge bereitet.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Das zentrale Problem in einer Welt der intelligenten Maschinen ist es, die richtigen und wichtigen Fragen zu stellen; die Stellen im Wissen und Denken zu finden, die nicht durch endlose Permutationen des Vorhandenen ausgefüllt werden können. Das, was immer schon der Kern der kreativen Arbeit war: den Horizont aufzuhebeln. Das ist nicht leicht, aber auf der gesellschaftlichen Ebene ist es ungleich schwieriger: Zum einen müssen wir hier einen Weg finden, der Vereinnahmung von Protest durch die Verwertung zu entgehen. Ich warte ja schon auf die erste Werbung für Klimaklebstoff. Zum anderen müssen wir einen Weg finden, die abgestumpften Menschen einschließlich uns selbst wieder zu erreichen, zu sensibilisieren, was zum Beispiel den skandalösen Umgang mit Menschen auf der Flucht angeht. Oder eben die rasante Zerstörung und Vergiftung unserer Natur, auch des eigenen Körpers, etwa durch Feinstaub und Mikroplastik. Mit Betroffenheitsästhetik und moralischem Pathos kommt man in einer Welt der Fakes, Trollfarmen und Shitstorms nicht weit. Das perlt am Gorillaglas ab. Und zum Dritten müssen wir Kunst und Literatur vor der Instrumentalisierung für kriegerische Zwecke bewahren und ihren pazifistischen Kern erhalten. Irgendwo müssen die Utopien überwintern und ich glaube Literatur und Kunst sind der geeignete Nichtort dafür.
Was liest Du derzeit?
„Lob der Melancholie“ von Lázló F. Földényi
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ich habe hier ein Minibuch vom Verlag Volk und Welt aus dem Jahr 1987, in hellblaues Leder gebunden: Max Frisch, Fragebögen 1966-1971. Das beginnt so:
„1. Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?
2. Warum? Stichworte genügen.“
Vielen Dank für das Interview lieber Gisbert, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Zur Person_Gisbert Amm, Dichter, geboren 1965 im Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze. Aufgewachsen im Thüringer Wald. 1989-94 Teilnahme an der friedlichen Revolution und Studium der Theaterwissenschaft in Leipzig. Nach dem Studium 1995 Umzug nach Baden-Württemberg. Verschiedene Tätigkeiten. Seit 1998 Softwareentwickler. 2009 Umzug nach Brandenburg. 2016-22 Betreiber des Lyrikhauses Joachimsthal.
Aktuelle Gedichtbände:
Das Fingerzeighaus, Bübül Verlag Berlin 2022;
Gisbert Amm, Semper. Gedichte. fabrik.transit Wien, Juni 2023

Gisbert Amm, Semper. Gedichte
Illustriert von Marlen Melzow
€ 18,00
12,4 x 18,3 cm Hardcover
120 Seiten, Ill sw.
ISBN 978-3-903267-56-5
Erscheint im Juni 2023
https://www.fabriktransit.net/de/buecher/neuheiten/324-gisbert-amm-semper-2023.html
Foto_Mechthild Rieffel.
25.4.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.