„Man muss sich erst im Klaren sein, was Literatur schafft“ Sebastian Grayer, Autor _ Graz 14.5.2023

Lieber Sebastian Grayer, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Im Moment sind die Tage sehr strukturiert und organisiert, und auch ein wenig statisch geworden. Der Tagesablauf richtet sich nämlich nach meinem Terminkalender, der voll ist mit Universität, meinen Studien der Germanistik und Soziologie sowie meiner Arbeit im Journalismus. Dennoch bin ich dadurch nicht gelähmt und suche beständig nach Freiräumen oder verhindere zumindest, dass sich die Durchstrukturierung und Kolonisierung vollends durchsetzt. Das gelingt mir nicht immer gleich gut, aber ich versuche es.

Ich wache also täglich mit dem Klingeln des Weckers um 4.30 Uhr auf und starte ausgeschlafen in den Tag. Die ersten Schritte zum Fenster zu gehen, dieses zu öffnen und dann in Stille die Stille der beginnenden Morgenstunden zu lauschen – ich liebe das, ich kann die Ruhe richtig genießen!

Der Tag setzt sich mit dem Weg unter die Dusche fort, wo meistens das große Nachdenken über die vor mir liegenden Stunden beginnt. Dann setze ich mich an den Schreibtisch, beantworte einige Mails und werfe einen Blick in Facebook und Instagram.

Nach dem Zähneputzen geht es in Richtung Universität, dort trinke ich in der Regel auch meinen ersten Kaffee, oder aber auch in einem Grazer Kaffeehaus bei einer Zeitung. Vorlesungen, Kurse, intensives Studieren, kurze Pausen und das Schreiben von wissenschaftlichen Arbeiten reihen sich schließlich dicht aneinander. Dazwischen gliedert sich selbstverständlich noch die Suche nach interessanten Themen, Geschehnissen und insbesondere wunderbaren Menschen für potenzielle Artikel und die Vorbereitung auf die Arbeit am Wochenende ein.

Die Abende verlaufen dann ähnlich: Ich schlafe irgendwann mal bei laufendem Radio ein. Mir kommen die Tage sehr kurz vor, wobei jeder einzelne davon mich wirklich erfüllt.

Sebastian Grayer, Autor

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Mir schwebt das Zurückkommen zu einem Mensch-Sein in einer reinen Form vor, das seine Gehässig- und Rücksichtlosigkeit sowie Brutalität und sämtliche Stumpfsinnigkeiten abgestreift und es gegen Offenheit und ein aufmerksames, wahrhaftiges Miteinander getauscht hat. Darauf kommt es zurzeit wohl am meisten an. Und Kultur, ich meine Literatur, Kunst und Musik, macht dieses Mensch-Sein auf ganz besondere Weise erfahr-, spür und erlebbar. So glaube ich, dass uns ein Aussparen auf Kultur guttun und zur Entschleunigung beitragen würde und bei der Überführung von Uneindeutigkeiten zu Eindeutigkeiten enorm hilfreich sein könnte. Kultur bringt unmissverständlich auf den Punkt und bringt Tiefergehendes zum Ausdruck.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Es wird darauf ankommen, weiterhin der Literatur und Kunst ihren Raum zu geben, wie groß dieser dann auch tatsächlich gestaltet sein mag. Und diesen Anspruch auf einen Raum unmittelbar in der Gesellschaft gilt es auch mit einer konsequenten und leidenschaftlichen Vehemenz wie Standhaftigkeit einzufordern.

Der unerschütterlichen Literatur kommt die Rolle einer wichtigen Entgegensetzung zu, sie bringt sich selbstsicher gegen das Artikulationsdefizit der Alltagssprache in vielversprechende Stellung und macht das Leben mit ihrem Volumen aus Klangsättigkeit und forcierten Momenten erträglicher. Man muss sich erst im Klaren sein, was Literatur in ihrer Beständigkeit und aus einem umfassenden Möglichkeitsraum, wie aus dem Nichts schöpfend, schafft. Jeder literarische Text ist ein sprachliches und robustes Gemälde, das in mühsamer Arbeit, ermüdender Selbstpraxis und intensiver Auseinandersetzung mit der äußeren, sozialen Welt entstanden und geformt wurde. Mit der sprachlichen Formung innerhalb einer Selbstpraxis von Autoren entsteht das inhaltliche Innenleben, das sich in einer feinen Sprachgewalt gegenüber dem Leser offenbart und gleichzeitig immanent in Erscheinung tritt. Und es ist jedenfalls gerade diese feine und für Literatur typische Sprache, die literarisch-klangliche, die doch den Sinn des Lebens für uns innerhalb der Literatur anzusammeln imstande ist.

Die Literatur bricht das Alltägliche auf und modelliert mithilfe ihrer besonderen Sprachfertigkeit den Lebenssinn heraus. Sprache steht nicht im Weg eines Textes, wie viele meinen möchten, und erschöpft sich auch nicht selbstzweckmäßig, wie viele überzeugt sind. Alles geht von einer sprachlichen und begreifenden wie ergreifenden Konzentration aus, die sich an einzelnen Sätzen der Reihe nach manifestiert, zusammen eine ganze Manifestation bildet und seine einzelnen Mikrobausteine gerade erst für einen literarischen Text liefert, um von sinnlichen Bildern begleitend wirklich berührende Momente hervorzubringen, in denen die Leser selbstständig mit dem Gelesenen in ihren außerliterarischen Welten notwendigerweise auseinandersetzend und mehrwertschöpfend innehalten und die sich bietenden Reflexionen weiter vorantreiben müssen.

Und es ist die Selbstpraxis der Autoren und Künstler, die mich in meiner Ansicht stärkt, dass diese die besseren Soziologen sind. Menschen, die hinter Kunst und Literatur stehen, bohren auf feine Weise in sozialen Tiefen hinein; dann ist es nur folgerichtig, dass der Artikulation in Literatur und Kunst eine versprachlichte Gegenwart zukommt, wo nichts bloß aneinandergereiht zu sein scheint, sondern vielmehr aus sanften wie akribisch zusammengesetzten Kompositionen besteht, die für uns äußerst bewegungsstiftend sind und uns weiterbringen, nach vorne. Eine sinnliche Sprachgewalt also, die paradoxerweise ineinandergreifende Komplexitäten erst erschafft.

Am Ende ertränkt Literatur das fortschreitende Abstumpfen, und es sind Kunst und Literatur – man kann es nicht oft genug sagen – die, im Gegensatz zum derzeitigen Weltschmerz stehend, die dringenden Resonanzen für die Menschen anbieten und durch ihre Lektüre und Betrachtung auf seltsame Weise eine Einsamkeit möglich machen, an deren Ende eine Schärfung der eigentlichen Wahrnehmung steht. Und so eröffnen sich wiederum neue Resonanzen von unglaublicher Schwere und Tiefe, die uns aufmerksam und empfänglich machen. So wären die Rollen der Literatur und Kunst unter uns zu sehen, die beide Gesellschaft notwendigerweise zerdehnen.

Was liest Du derzeit?

Derzeit lese ich einerseits zum dritten Mal das Buch „Auslöschung. Ein Zerfall“ von
Thomas Bernhard und andererseits „Herzzeit. Ingeborg Bachmann, Paul Celan. Der
Briefwechsel“
sowie Peter Handkes „Nachmittag eines Schriftstellers“. Dazwischen
auch vereinzelt Lyrik von Rainer Maria Rilke und Ingeborg Bachmann.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Im Buch „Einübung ins Schweben“ von Dževad Karahasan habe ich folgende, mich
sehr berührende Textstelle unterstrichen: „Vielleicht wäre es am treffendsten zu sagen,
dass uns eine tiefe Freundschaft verband, die auch eine starke Anziehung einschloss,
so dass unsere Beziehung, eigentlich die Nähe, die nicht durch regelmäßige oder
häufige Begegnungen bestätigt wird, lange dauerte, auch nachdem wir begriffen
hatten, dass sie nicht mein Mädchen und ich nicht ihr Kerl war.“

Persönlich halte ich mich am folgenden Zitat von Ingeborg Bachmann fest: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“

Sebastian Grayer, Autor

Vielen Dank für das Interview lieber Sebastian, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Sebastian Grayer, Autor

Zur Person_Sebastian Grayer *1999 in Klagenfurt (Kärnten) geboren

Beruf und Wohnort Autor, freier Kulturjournalist sowie Student der Soziologie und Germanistik. Lebt, arbeitet und studiert in Graz (Steiermark, Österreich) sowie in Völkermarkt (Kärnten, Österreich).

2006 – 2010: Franz Mettinger Volksschule Völkermarkt 2006 – 2009: Musikschule Völkermarkt (Waldhorn) 2010 – 2014: Neue Mittelschule Völkermarkt 2014 – 2018: Bundesoberstufenrealgymnasium Wolfsberg (Matura) 2018 – 2020: Rotes Kreuz Völkermarkt (Zivildienst und Ehrenamt) Seit 2019: Bachelorstudium Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz

Seit 2022: Blog „Ein Hinterzimmer. Texte zu Literatur, Kultur und Gesellschaft“ 2022: Jurymitglied beim Literaturwettbewerb der HAK und HLW Wolfsberg Seit 2023: Mitglied bei den Völkermarkter Turmschreiber:innen

Seit 2023: Redaktioneller Mitarbeiter beim kärntenweiten Newsletter des Roten Kreuzes
Kärnten

Seit 2022: Referent für Medien- und Öffentlichkeitsarbeit beim Roten Kreuz Kärnten (Bezirk
Völkermarkt)

Seit 2022: Ehrenamtlicher Kulturjournalist beim Kärntner Bildungswerk
Seit 2022: Literaturjuror beim Kärntner Bildungswerk
Seit 2022: Bachelorstudium Germanistik an der Karl-Franzens-Universität Graz
Seit 2021: Freier Journalist bei KLiCK Kärnten
2020 – 2021: Tutor für Studienanfänger:innen des Soziologiestudiums an der Karl-FranzensUniversität Graz

Seit 2020: Korrektor für wissenschaftliche Texte (von Student:innen der Karl-FranzensUniversität Graz und Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) und andere Textsorten von außeruniversitären Personen sowie auch außeruniversitären Themen

Soziale Medien
Ein Hinterzimmer: https://einhinterzimmer.blogspot.com
Facebook: https://www.facebook.com/sebastian.grayer
Instagram: https://www.instagram.com/sebastian.grayer

Foto_privat

Walter Pobaschnig _ 9.4.2023

https://literaturoutdoors.com/

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