„Künstler:innen – selbst am Zenit ihrer kreativen Kraft – können nicht mehr davon leben“ Thorsten Nesch, Schriftsteller, singer&songwriter _ Lethbridge/Can 1.5.2023

Lieber Thorsten, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

(Mo-Fr): Ich schlafe bis 8 Uhr, dann sind meine Lieben zur Arbeit, Schule, Uni. Während ich frühstücke, lese ich Gedichte – diese Woche Leonard Cohen. Dann arbeite ich an meiner Kunst, zur Zeit hauptsächlich Lieder, Songlyrics und Musik. Das mache ich bis etwa 1 Uhr inklusive Mittagessen, danach Supermarkt, Wäschewaschen, Reparaturen, etc., diese ganzen Erwachsenensachen bis 3 Uhr, weil dann unser Juengster, Clive (13), nach Hause kommt (Kanada). Wir erzählen etwas und gucken entweder eine Episode Bob’s Burgers oder machen Musik zusammen (Ukulele, Gitarre, Looper, Gesang) bis irgendwas nach 4 Uhr, dann koche ich Abendessen für die Familie und wir essen zusammen kurz nach 5. Um 5.40 Uhr muss ich los, ab 6 Uhr arbeite ich als Hausmeister bis 10 Uhr. Von 10.30 bis 11.30 mache ich etwas Stilles zuhause bei Kerze und Leselampe: schreiben (Gedichte, Lyrics oder beantworte diese wundervollen Fragen gerade) oder arbeite an Fotos oder Videos – ohne Sound. Meistens in Ruhe, manchmal zu der Musik von BOHREN, BRIAN ENO oder MAX WUERDEN. Um 11.30h starte ich einen Independent oder Classic Film (auf MUBI oder CRITERION) bis c.a. 1.30 Uhr – gefolgt von Schlafen & Träumen (hoffentlich!).

Am Wochenende arbeite noch eine Schicht von 4 Stunden und habe sonst nur Zeit für meine Lieben.

Thorsten Nesch , Schriftstellersinger&songwriter

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Wow, was für eine Frage. Eigentlich, was immer wichtig ist: Ehrlich bleiben, lieben, Freunde treffen und/oder Familie, lachen, sich selbst hinterfragen, neugierig sein, lernen, ein Teil der Guten zu bleiben, was aber auch beinhaltet, die Bösen in Schach zu halten.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Sehr schwierig. Der Geist wird gerade sturmreif getiktokt (und alle anderen SocialMedia-chisten folgen). Ein sinnvoller Diskurs wird bald kaum mehr möglich sein. Fuer einen Gemeinsamen Nenner, von dem man aus diskutieren kann, braucht man ein allgemeinverständliches Zahlensystem, eine gemeinsame Wissensbasis. Gerade diese wird poroes gebildschirmt und fragmentiert. Zu organisierten Religionen und Sportclubs und anderen Fassaden kommen nun mediale Echokammern, wo der Confirmation Bias des Einzelnen nur zementiert wird. Da hilft nicht, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne von einer Stunde auf 22 Minuten (TV show), auf 15 Minuten (TED talk), auf 1 Minute (Stories), und nun bis auf 6 bis 7 Sekunden kastriert wurde.

Künstler und Intellektuelle wurden durch das Internet (gecrackte Ebooks, Musik etc.), die Playstationifizierung, und nun A.I. als Ersatz für visuelle KünstlerInnen nach und nach ihrer finanziellen Existenz beraubt. Die letzten Jahre haben die Zersplitterung der Gesellschaft (in 1992 gebrauchte ich den Begriff “Parallelgenerationen”) vollendet. Künstler – selbst im Zenit ihrer kreativen Wucht – können nicht mehr davon leben.

Wirkliche KünstlerInnen (sorry, wenn ich das ein paar mal nicht so geschrieben habe, aber ich lebe in der Englischen Sprache) arbeiten Jobs – und verschwenden so mehr und mehr ihrer wertvollen Zeit – die sie der Gesellschaftals Kunst zurückgeben könnten. Leider ist dies das Symptom des Niedergangs jeder alten Zivilisation gewesen: wenn Brot und Spiele (oder Apps und Chips) die Oberhand gewannen.

PS: letztes Jahr habe ich einen Chinesischen Film gesehen, LONG DAY’S JOURNEY INTO THE NIGHT – technisch und finanziell leicht machbar in der sogenannten 1. oder westlichen Welt, aber er wurde eben nicht hier gemacht, und ich staune darüber, dass ich aktiver Zeitzeuge beim Untergang eines Imperiums, der westlichen Welt, sein darf, denn nichts anderes signalisiert die Impotenz der westlichen (Finanz)Kultur so sehr für mich wie dieser Film aus China.

Für die wirklichen KünstlerInnen kann nur der Nicht-Ausverkauf das Ziel sein, das sich nicht-einfügen samt Selbstaufgabe für ein karges Arbeitsentgelt, sondern ein bewusstes Dagegenlehnen, selbst wenn die Nische noch so klein ist.

Was liest Du derzeit?

Leonard Cohen’s “Book of Longing”, die letzten Seiten von Lorca’s Gesamtwerk, “The Broadview Anthology of Poetry” eine kanadische Lyrik-Anthologie, “The Spoken Word Work Book” edited by Sheri-D Wilson, und den Rest von “Solipsist” by Henry Rollins.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Im Mai (ich veröffentliche 1 EP pro Monat und ab Mai immer mit 1 deutschen Song, indie Songwriter) auf allen Streamern wie Spotify und so, und der Titelsong heisst GIVE ME THE CRAZIES, und davon würde ich den Refrain nehmen: “If these are the good people, give me the crazies, the dreamers and the drunks, the screamers and the lazies, and the ones that see hope, where no hope is – and love”.

Neugierig? Bitte lausche hinein, mit Liedtexten und Canvases (Mini video loops gemacht in der Gegend hier, Lethbridge, Alberta)

https://open.spotify.com/artist/76WbmQPGgHTY2vFnHAttFY

Vielen Dank für das Interview lieber Thorsten, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Musik-, Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

Dank Dir, dank Euch!

-Thor

(mein Spitzname hier – nein, nicht aufgrund meiner Statur… nur wegen der ersten Haelfte meines Namens)

5 Fragen an Künstler*innen:

Thorsten Nesch, Schriftstellersinger&songwriter

Zur Person_ Thorsten Nesch lebt in Lethbridge, Kanada. Traditionell veroeffentlichte Romane auf Englisch und Deutsch. Seit Januar 2022 veroeffentlicht er 1 EP pro Monat als Songwriter (Bandcamp, Spotify etc.).

Mehr Infos http://www.thorstennesch.com

Foto_privat

24.3.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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