„unsere Egozentrierung zu verlassen und für andere da zu sein“ Olav Amende, Schriftsteller _ Lepzig 15.4.2023

Lieber Olav Amende, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Fast jeder Tag beginnt für mich mit einem guten Frühstück, Radio hören und zehn Minuten Schreiben. Über die Woche verteilt gehe ich neben meiner Lohnarbeit regelmäßig Laufen und zum Boxen, beschäftige mich mit Sprachen, verbringe (zu viel) Zeit mit Büroarbeit, lese, schaue Filme, gehe (zur Zeit zu selten) ins Theater und treffe mich mit Lieben. Fast jeden Tag beschließe ich damit, dass ich mir einen einprägsamen – zumeist schönen – Moment notiere. Neben diesem „Alltag“ versuche ich mir möglichst oft Zeit freizuschaufeln, um dann fast nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag zu schreiben.

Olav Amende, Schriftsteller,
Regisseur und Performancekünstler

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Bei all dem, was schief läuft, um es gelinde zu sagen, und von dem wir wissen, dass es schief läuft, weiß ich gar nicht, an welchem Ende zuerst zu ziehen. In einem ersten Versuch, diese Frage zu beantworten, habe ich eine Seite geschrieben und war mir der Antwort noch längst nicht sicher. Ich denke, ein wichtiger Punkt oder vielleicht ein Neuanfang von allem könnte der Versuch sein, unsere Egozentrierung – und ich nehme mich da nicht aus – zu verlassen und für andere da zu sein (so auch für andere Arten); gerade dann, wenn wir persönlich nichts davon haben.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Ich denke, dass es allerhöchste Zeit für die Veränderung im Denken ist, von der wir alle sprechen. Kunst kann diese Veränderung in Gang setzen. Sie kann Werte in Frage stellen. Sie muss keine Antworten liefern, nichts beweisen. Sie stellt unser Denken in Frage, indem sie ist. Sie folgt einer anderen Logik. Und von dieser können wir uns in unserer Realität anstecken lassen.

Was liest Du derzeit?

Gerade eben ausgelesen habe ich „Rache“ von Fabian Bernhardt – eine, wie ich finde, wirklich umfassende, sachliche Analyse, die einen interessanten Blick auf Rache/Strafe/Vergeltung ebenso wirft wie auf unsere Sehnsucht nach Super-Helden und auf unsere Art des Wirtschaftens. Nun habe ich mit Ulrike Draesners Gedicht „Doggerland“ begonnen und schätze es, weil es an eine andere Logik der Gesellschaft erinnert und weil es sprachgeschichtlich wunderbar oszilliert. Und parallel dazu lese ich Essays von Tom McCarthy, die dazu führen, dass ich mir noch mehr Bücher bestelle …

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Auf welche Weise wird man Gedanken los. Indem man sie denkt. Denkt und wieder denkt. Durchdenkt. Zu Ende denkt. Gäbe es einen Apparat, der alle Hoffnung, die noch in der Welt ist, bündelt und wie einen Laserstrahl gegen diesen Horizont aus Stein richtet, ihn aufschweißt, durchbricht.“ (Christa Wolf – Was bleibt)

&

„Stell dir vor, du bist ein Handy in der Nacht / Die Liebe hält dich wach.“
(Pauls Jets – Die dunklen Prinzessinnen der Nacht)

Vielen Dank für das Interview lieber Olav, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur, Schauspiel-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Olav Amende, Schriftsteller, Regisseur und Performancekünstler

Zur Person_Olav Amende (*1983 in Berlin) ist Schriftsteller, Regisseur und Performancekünstler. Er hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (MA) an der Universität Leipzig studiert.

Er schreibt und inszeniert Theaterstücke (u. a. „Das Versprechen“ – Cammerspiele Leipzig, „Die Ungeliebten“ – Die Bühne Dresden, „Im Arrest“ – Neues Schauspiel Leipzig, „Führ‘ mich ans Licht!“ – Anhaltisches Theater Dessau) und veröffentlichte Texte in diversen Literaturmagazinen (u. a. „metamorphosen“, „Maulkorb“, „mosaik“, „GYM“, „apostrophe“). Sein Gedicht „Phantasie in Eile“ wurde im Rahmen der „Superpreis-Anthologie“ der „metamorphosen“ veröffentlicht.

Im Sommer 2021 brachte er sein Theaterstück „Zwischen Dingen“ am Anhaltischen Theater Dessau zur Uraufführung. Im Sommer 2022 erschien sein Langgedicht „abwesenheiten“ im Kölner Lyrik-Verlag „parasitenpresse“. Im Herbst 2022 produzierte er seinen ersten Dokumentarkurzfilm, der 2023 erscheint.

Derzeit arbeitet er an einem weiteren Langgedicht für die „parasitenpresse“.

Foto_Mim Schneider

7.3.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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