„Bedingungen schaffen, die das Schreiben nicht als Weg in die Armut führen lässt“ Steffen Marciniak, Schriftsteller _ Berlin 15.2.2023

Lieber Steffen, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Meinen Tagesablauf kann ich wirklich als konfus, manchmal auch als chaotisch bezeichnen. Das ist überwiegend der empfindlichen Gesundheit geschadet, die mich hier und da am Tage plötzlich ermüden lässt und mir schläfrige Ruhepausen abnötigt. So geraten Tag und Nacht manchmal arg durcheinander, ein Nachtmensch war ich aber immer schon.

Gern ziehe ich die kreativen und freudvollen Arbeiten dem Bürokratischen vor, schiebe es weiter nach hinten, bis es hier und da sich meldet und brenzlig auflodert. Ich versuche, niemals mehr als einen auswärtigen Termin anzusetzen, um Stress aus dem Weg zu gehen.

Unterwegs in der Bahn lese ich und staune, wie wenige das noch tun, aber ich habe es eben geschafft, bis heute ohne Mobiltelefon zu leben, dem Lieblingsgerät der Bahnfahrer. Daheim schaffe ich es momentan nicht, so viel zu lesen, wie früher. Meine Neigung wandte sich mehr der kürzesten literarischen Form zu: der Lyrik und ich bediene mich in meiner im Lauf der Jahre schier unerschöpflichen Lyrikbibliothek.

Gibt es weitere Rituale in dieser Mixtur eines Tagesablaufs? Einmal die Woche muss es sein: da gehe ich in meine Lieblings-Sushi-Bar, eine Erbgewohnheit, ausgelöst während meiner Lebenszeit in Asien.

Neben dem eigenen Schreiben benötige ich natürlich viel Zeit, für die von mir herausgegebene Lyrik-Edition NEUN, samt engem Kontakt mit Autoren und Buchgestaltern. Nach meinem gerade erscheinenden Gedichtband „Prinzenverstecke“ wird bald mein vierter Band der „Ephebischen Novellen“ zum griechischen Mythos um Hyakinthos erscheinen. Außerdem plane ich Lesungen und ein weiteres Literaturfestival im Sommer, diesmal der Lyrik gewidmet.

Steffen Marciniak, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ein „uns alle“ ist ein schwieriges Unternehmen, denn Menschen sind Individualisten, die ihre eigens eingeschlagenen Wege beschreiten und solche wählen können, die mit Freude zur Erfüllung der Träume und Vorstellungen ihres Lebens beitragen. Wenn es dabei gelingt, nichts anzurichten, was anderen Schaden oder Leid zufügt, wäre viel erreicht. Und alle, die sich daran orientieren, sollten die Hoffnung nicht verlieren, dass auch der Rest sich davon überzeugen lässt. Ich hatte diese Hoffnung immer, doch mischt sie sich heute mit Zweifel. Wann endlich wird die alles hemmende Armut besiegt, in der Welt, aber auch in westlichen Gesellschaften? Nur das Ende der Armut kann Missgunst und Neid besiegen, die oft Grundlage für Hass und Hetze sind.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

In erster Linie die Bildung verstärken, Wohlstand schaffen, um der Zerstörungswut den Boden zu entziehen. Nur wer sich bewusst wird, was er ist, weiß und kann und was es zu verlieren gibt, der kann sich gegen den Hass stemmen, der nicht aufzuhören scheint, und er lernt wenigstens, ein Wahlkreuz abzugeben. Kunst und Literatur kann wie es schon oft beschrieben wurde, die Sensibilität des Menschen stärken, nicht nachzulassen, tugendhaftes Handeln aufzuzeigen. In meinem Wesen liegt es eher, den zeitlosen Formen allgemein menschlicher Fragen von Leben, Bewahrung und Tod, Schönem, Gutem und Wahrem zu folgen; und natürlich immer wieder Bildung, die Hass, Hetze, Dummheit und Propaganda lächerlich erscheinen lässt. Ich mag nichts Radikales, weil das Angst, Depressionen und Verzweiflung gerade bei Unvermögenden auslöst. Das Setzen allein auf die Wirtschaft wird den Menschen kein Glück bringen. Kunst und Literatur sollen noch viel stärker ein anstrebbares Gegengewicht zum ständigen Höher, Schneller, Reicher werden, und den dafür Empfänglichen Erfüllung geben. Als Voraussetzung müssen Bedingungen geschaffen werden, die das nicht als Weg in die Armut erscheinen lassen.

Was liest Du derzeit?

Vor allem lese ich Gedichte, Gedichte in Bänden aus meiner Lyrikbibliothek, Klassiker des 20. Jahrhunderts, wie Stefan George und bin seit jeher immer auf der Suche nach wenig bekannten Namen. Aus der Gegenwartslyrik lese ich gerade Şafak Sariçiçek, Klaus Anders, Christian Lehnert oder Ralph Roger Glöckler. Bei Prosa bin ich leselangsamer geworden, las gerade Gabriel Wolkenfelds „Babylonisches Repertoire“. Zum erneuten Lesen habe ich mir jetzt wieder meinen liebsten Autor, den Georg-Büchner-Preisträger von 1932, Henry Benrath (d.i. Albert H. Rausch) mit seinem letzten Roman „Die Geschenke der Liebe“ vorgenommen.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Es muss vom eben erwähnten Albert H. Rausch sein: „Mit Menschen, welche weiße Tulpen lieben, kannst du über Gedichte sprechen“ (aus dem Band „Tempelstufen“)

Vielen Dank für das Interview lieber Steffen, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Steffen Marciniak, Schriftsteller

Zur Person: Steffen Marciniak, geb. in Stralsund, lebt in Berlin, studierte Kulturwissenschaften an der Humboldt-Uni. Schriftsteller, Herausgeber, Lektor, Antiquar. Bisheriges literarisches Hauptwerk sind seine „Ephebische(n) Novellen“ im Aphaia Verlag, „HYLAS oder Der Triumph der Nymphe“, KYPARISSOS oder Die Gabe des Orakels“ und „PHAETHON oder Der Pfad der Sonne“ (2014-2020), sowie drei Gedichtbände, zwei im Anthea Verlag: „ÄolsHarfenKlänge“ (2018) und „ErzEngelGesänge (2019) und einer im erlag der 9 Reiche: „Prinzenverstecke“ (2022). Beiträge in über 30 Anthologien. Herausgeber der Anthologie „Entführung in die Antike“ (2019) im Verlag PalmArtPress und der Lyrik-Edition NEUN beim Verlag der 9 Reiche (seit 2021, bisher 12 Bände bis 2022).

Mitorganisator des „Griechisch-Deutschen Literaturfestivals“, Moderator des „Wilmersdorfer Lesesalons“, Juror beim Hanns-Meinke-Preis für junge Lyrik (seit 2019).

https://de.wikipedia.org/wiki/Steffen_Marciniak

Foto_privat

30.12.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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