
Jetzt blickt Sam Shepard, FBI, zurück. Auf einen besonderen Auftrag.
„Thomas Stoltz Harvey hieß mein Mann. Eisgraue Wolfsaugen, dünne Lippen…“
Aber das war nicht der einzige Auftrag. Zunächst war es ein anderer.
„Ich glaube, wir sind ans Ende gekommen, Herr Professor. Ich bekreuzigte mich, zündete mir eine Zigarette an…Der Arzt trat ans Fenster, blickte in die Dunkelheit der Nacht und sah, wie draußen die Glut einer Zigarette aufleuchtete. Professor Einstein ist tot, und wir haben die Bescherung…“
18.April 1955
Der Todestag von Albert Einstein, Nobelpreisträger, genialer Physiker, der mit seiner „Relativitätstheorie“ das Verständnis von Raum und Zeit revolutionierte, fällt mit dem Hochzeitstag des Pathologen Thomas Stoltz Harvey, Princeton-Hospital, New Jersey, zusammen. Der Krankenhausdirektor Blummenfelt gibt Harvey den Auftrag zur Obduktion Einsteins, nicht ohne selbst wie auch andere ein „Souvenir“ zu wollen…
„Unter den Ärzten und Krankenschwestern hatte sich herumgesprochen, wer im Autopsiesaal lag. Immer wieder schlichen welche hin, um einen Blick auf den Genius zu erhaschen. Nicht nur einem fiel dabei ein, dem berühmten Mann eine Locke abzuschneiden. Und wenn so etwas erst einmal losgeht… Als gegen dreizehn Uhr die Mitarbeiter des Krematoriums kamen, hatte Einstein beinahe eine Stoppelglatze. Einem Chirurgen war es in den Sinn gekommen, dem Physiker einen Zahn herauszubrechen… Es ging zu wie zur Hochblüte des Reliquienhandels.“
Doch Harvey entfernt das Gehirn und nimmt es an sich. Und jetzt beginnt eine Reise in das Herz und Hirn eines Landes zu Kunst, Politik, Gesellschaft auf der Suche nach Leben in Raum und Zeit….
Franzobel, gefeierter Schriftsteller und Dramatiker, Ingeborg Bachmann Preisträger 1995, ist eine der originellsten, innovativsten wie überraschendsten literarischen Stimmen der Gegenwart. In Themen-, wie Stilvariation ist Franzobel stets auf der Suche nach inhaltlichen wie formalen Möglichkeiten des Erzählens. Dabei ist immer der Mensch in einer, seiner Welt im Mittelpunkt, die sich dreht, schnell und mitreißend, ein Strudel, in welcher er versucht Fuß zu fassen und seinen Weg zu gehen in allen Lebenslagen.

Ingeborg Bachmann Preisträger 1995
Im aktuellen Roman „Einsteins Hirn“, für den der österreichische Schriftsteller auf den Spuren der literarischen Hauptperson Harvey – jener Pathologe, der Albert Einstein obduzierte und sein Gehirn entnahm – ausgehdehnte Reisen in die USA wie auch Asien unternahm und dies anschaulich wie pointiert in ein mitreißendes roadmovie zwischen Himmel, Universum, und Erde einfließen lässt. Harvey ist zwischen Herkunft und Familie, Beruf und Vision wie Sinn und Einsamkeit in den USA der 1950/60/70er Jahre am Lebensweg und hat dabei „Einstein“ und alle Fragen nach Sinn, Zeit und Wirklichkeit im sprechenden Gepäck. Auf geniale Weise werden nun die Bezugsebenen von Leben und Welt ineinander geführt und mit- wie gegeneinander in sprühenden Dialog gesetzt.
Die literarische Energie, die Franzobel in seinem neuesten Roman im Inhalts- wie Formbogen entfesselt – etwa mit dem sprechenden Einsteinhirn – ist faszinierend. Personen, Begegnungen, Dialoge zwischen Faust und Moby Dick, Beat Generation und Woodstock, Religion und Wirklichkeit, Krieg und Pazifismus lassen vergangene wie gegenwärtige Gesellschaftsuniversen kaleidoskopartig aufblitzen und Mensch und Zeit in aller unerträglichen Leichtigkeit darin verlieren. Ein Lebens- und Zeituniversum, ein Karussell, in dem gleichsam Harvey als faustischer Prototyp oder moderner Major Tom nach Halt, Hirn und Herz im Universum, dem großen wie kleinen, sucht, im wahrsten Sinne des Wortes.
Zu bewundern ist auch, dass Franzobel keine Angst vor dem großen, umfassenden Roman hat und auch mit „Einsteins Hirn“ ein über fünfhundert Seiten fassendes Werk vorlegt, welches das literarische Jahr fulminant eröffnet.
„Franzobel = Sprachvirtuosität x Originalität zum genial literarisch unterhaltenden wie tiefsinnigen Lesequadrat“
„Einsteins Hirn“ Franzobel. Roman. Paul Zsolnay Verlag. 2023.
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Foto_Portrait: Wallter Pobaschnig