„die Menschen wieder von den Vorzügen eines Theaterbesuchs zu überzeugen“ Peter Uhl, Theatermacher _ Wien 1.1.2023

Lieber Peter, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Die Fragestellung trifft das generelle Paradoxon unsere Zeit erschreckend genau: Jetzt und Tagesablauf gleichzeitig beantworten zu wollen, widerspricht einander. Klar, im Vergleich zu 2020/21 habe ich wieder mehr Termine, kann wieder Projekte vor Publikum realisieren, „live” unterrichten etc., und ich versuche die gewohnte Normalität wieder herzustellen, obgleich ich daran an jedem Tag – manchmal glücklich, ein anderes Mal produktiv und dann auch wieder deprimiert – scheitere.

Mein Tagesablauf wird zunehmend zu einem Tagesgeschehen und mein Bemühen ist, das Jetzt auszufüllen und weniger zu planen. Und mit allem aufzubringenden Optimismus ist das die Quintessenz, die ich durch die aktuellen und nicht mehr ganz aktuellen Krisen (und den daraus resultierenden Folgeschäden) gelernt habe: nicht im Extrapolieren von Möglichkeiten und Planen anhand von Wahrscheinlichkeiten, sondern im Tun anhand meiner Fähigkeiten (und dieses zu optimieren) liegt die Kraft des Fortschreitens.

Also, um die Frage irgendwie zu beantworten: mein Tagesablauf ist das, was ich in Abfolgen von vielen „Jetzt-Zuständen” im Rahmen einer gewissen Routine und akzeptierten und auch geliebten Strukturen erfüllen kann, muss und will 😉.

Peter Uhl_
Theatermacher, Schauspieltrainer und Autor

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig? 

Ach herrje, wo soll ich anfangen?! Strukturell gesehen Politiker*innen, die diese Bezeichnung verdienen, ohne, dass die alten Griechen im Grab rotieren. In gesellschaftlichem Hinblick ein Besinnen darauf, dass es nicht genügt, der Spezies Mensch anzugehören, sondern dass man zusätzlich auch menschlich sein sollte; in wirtschaftlichen Sphären vielleicht doch noch einmal das Dogma „Geht es der Wirtschaft gut, geht es dem Menschen gut” zu überdenken;  in medizinischen-pflegerischen Belangen die Einsicht, dass dies kein profitorientierter Sektor sein kann und darf; generell, dass Arbeit wertschätzend beglichen wird; … dass Bildung keine Anhäufung von Wissen, sondern ein Erfahrungsprozess und ein Verständnis von Zusammenhängen ist; und im privaten Bereich, dass Verachtung, Neid oder das Festhalten an überholten Strukturen, Geschlechterrollen und -bildern keine funktionale Gesellschaft hervorbringt. Für mich persönlich, dass Selbstverantwortung, Verantwortung gegenüber anderen und sich einen kritischen Geist zu bewahren etwas ist, das stets hochgelebt, aber auch ständig hinterfragt und gegebenenfalls angepasst/korrigiert werden muss.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu? 

Generell sollte Kunst und Kultur stets über den Tellerrand blicken, Missstände veranschaulichen und/oder Visionen sowie Illusionen bieten – unabhängig von Krisenzeiten, vermeintlichem Wohlstand, gesellschaftlichem Aufschwung oder allgemeiner Stagnation.

Was meines Erachtens an der aktuellen Lage ein Novum ist, sind die unterschiedlichsten Konfliktherde, die sich gleichzeitig aufgetan haben. War in der Vergangenheit der Fokus auf die Dekadenz des Adels, den Aufbruch der Arbeiter*innen, die Tragik eines Krieges und dessen Folgen, die sexuelle Revolution, die Rechte von Frauen etc. gerichtet, so ist es heute nicht mehr wirklich möglich, für das globale und lokale Geschehen einen einzigen „Hauptschuldigen” dingfest zu machen. Dadurch ist die Pluralität von Kunst und Kultur wichtiger denn je, um diese Komplexität zu verdeutlichen und im weiteren Sinne zu bedienen. Unabhängig davon, ob sie visionär, progressiv, provokativ oder im besten Sinne konservativ ist – oder einfach nur der Unterhaltung oder Ablenkung dient. Gerade die verabscheuungswürdige Polarisierung im Zuge der Corona-Jahre hat mir verdeutlich, wie wichtig es ist, wieder zu erlernen, eine gesunde Diskussion oder eine produktive Kontroverse zu führen – beziehungsweise einfach auch zuzuhören, ohne gleich allergisch auf gewisse Reizworte zu reagieren. Und darin liegt meines Erachtens auch ein Teil der unendlichen Kraft der Kunst: sie kann Fragen aufwerfen, mögliche Antworten anbieten, aber auch einfach nur „Dampf ablassen” … das Zu- und/oder Anhören/-schauen ist dabei stets Voraussetzung. Gerade in Wien haben wir diesbezüglich ein mannigfaltiges und großartiges Angebot – die Herausforderung besteht darin, die Menschen wieder besonders von den Vorzügen eines Theaterbesuchs zu überzeugen, um den Mehrwert, den sie gegenüber einer Lockdown-bedingten Bequemlichkeit in Hinblick auf Netflix & Co (ohne dadurch die dort mitunter angebotene hohe Qualität mindern zu wollen) klar zu machen. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass etwas hautnah zu erleben oder zu konsumieren intensiver ist, als es über einen Bildschirm flimmern zu sehen.

Aber ich denke, dass wir im optimalsten Fall gerade dabei sind, einen Aufbruch vorzubereiten und die Grundsteine für einen Neubeginn setzen. Es genügt nicht mehr, die Gesellschaft und Politik durch revolutionäre Impulse, Provokation oder Aktivismus wach zu rütteln, sondern wir brauchen (zusätzlich) eine grundlegende evolutionäre Veränderung – ein generelles Umdenken, das bis in die Tiefen unseres Reptiliengehirns vordringen muss und somit zur Selbstverständlichkeit wird. Das ist inzwischen durchaus ein tragisches Rennen gegen die Zeit geworden, dessen tatsächlicher Ausgang ich wahrscheinlich nicht mehr erleben werden darf oder muss.

Was liest Du derzeit?

 „Ach, Marilyn” von Christina Jonke, immer und immer wieder – im Hinblick auf meine nächste Produktion (bin gerade in der Vorbereitungsphase und da gibt es in meinem Hirn keinen Platz für literarische Abwechslung 😜)

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Lerne die Regeln, damit du sie richtig brechen kannst.” (aus den Empfehlungen des Dalai Lama für das Leben im neuen Jahrtausend)

Vielen Dank für das Interview lieber Peter, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theater-, Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Peter Uhl_Theatermacher, Schauspieltrainer und Autor

Foto_privat.

18.12.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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