„Kunst kann mit dem Möglichkeitsraum anders umgehen als die Politik“ Walter Kratner, Künstler und Kurator _ Graz 24.11.2022

Lieber Walter, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Die Krankheit einer Angehörigen bestimmt seit Wochen meinen Tagesablauf. Wir leben im selben Haushalt. Schon frühmorgens wäscht, versorgt das mobile Pflegepersonal den alten Menschen. Ein zerebraler Infarkt hat den halben Körper und Gehirnregionen lahmgelegt. Der Körper wird gehoben, geputzt, geschoben, umgebettet und löffelweise ernährt.

In einem anderen Raum lese ich die Tageszeitung. Vor einer Woche beherrschte noch die Pandemie die Medien, in der nächsten Woche Ukraine, in der darauffolgenden Woche die Dissertation von irgendeiner Politikerin, die abgeschrieben haben soll. Das kriegen wir durchaus in unserer kurzatmigen Öffentlichkeit hintereinander. Ich gewinne den Eindruck, dass alles, was geschehen kann, auch geschehen wird.

Walter Kratner, Künstler und Kurator


Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

„Träume entlasten in Zeiten des Krieges die Wirklichkeit“, schreibt die ukrainische Künstlerin Kateryna Buchatska über ihre Arbeit. Selbst Albträume seien im Krieg besser zu ertragen, als der morgendliche Blick in den Newsfeed.Krieg bedeutet Not und Elend, Tod und Hunger, Verstümmelung und Vergewaltigung. Ein Krieg betreibt neben der Vernichtungskraft, die er entfesselt, das Geschäft der Angst – auch die Einschüchterung jener, die von ihm nicht direkt betroffen sind. Wer wagt es, aus privilegierter Perspektive sich zu ihm zu äußern? Wer könnte behaupten, zu verstehen, was sich vor unseren Augen ereignet? Inflation. Ich überlege, den Strom für den Boiler zu reduzieren.

Die Fähigkeit, Konflikte auszutragen ist in Österreich nicht besonders ausgeprägt. Über die innenpolitischen Zustände bin ich entsetzt. Elfriede Jelinek schreibt in ihrem Stück zum Lärm unserer Tage: „Alle stehen allen gegenüber und schreien sich an.“ Gleiches gilt für Demokratie und Freiheit, wenn ich sehe, wie Demokratieverständnis und Humanismus korrodiert. Wenn selbst Antifaschismus zu einer peinlichen Pose verkommt. Ich sehe in diesem Bereich die größte Gefahr – und wundere mich fassungslos darüber, dass es die sogenannte „Linke“ bei einem Fokus auf GenderSternchen und Identitätspolitik belässt, während uns ein gewaltbereiter rechter Nationalismus zu überrollen droht. Diese Auseinandersetzung wirkt hierzulande wie ein aus der Zeit gefallener Sonntagsspaziergang.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?

Der Dämon Krieg ist eine Herausforderung, dass wir unser Unterscheidungsvermögen, unsere Phantasie und unsere Urteilsfähigkeit schärfen. „Die Aufgabe der Kunst ist es, die eigene Sprache zu sprechen“, schreibt die ukrainische Künstlerin Vlada Ralko. Sie zeichne, weil sie nicht sprachlos sein wolle und sei der festen Überzeugung, dass nur jemand, der spreche, „sich dem sadistischen Druck des Aggressors widersetzen kann“. Sie löst die Ereignisse aus der Vergesslichkeit der Medien und führt es in das dauerhafte Gedächtnis der Kunst. Solche und andere Transpositionen sind Aufgabe der Moderne in der Kultur. Schon Goya stellt eine irre Abstraktion des Kriegs vor Augen. Die Grafiken von „Desastres de la Guerra“ machen anschaulich, wenn Geschichte nur mehr monströs wirkt.

Die laufenden Debatten über den Krieg signalisieren Ratlosigkeit und Resignation. Die Kunst kann dabei helfen, die Perspektive zu wechseln und neue Möglichkeiten ins Auge zu fassen. Wenn die feindlichen Parteien nur noch im Monolog reden, kann die Kunst mit dem Möglichkeitsraum anders umgehen als die Politik und die Menschen in ihrer Lebenswelt. In den Künsten manifestieren sich neue Blickwinkel, weil sie neben die Realität treten dürfen und vielleicht sogar Notausgänge weisen. „Ist das Teleskop oder die Träne der bessere Verstärker des Auges? Die Kunst würde antworten: die Träne. Die Wissenschaft würde sagen, selbstverständlich das Mikroskop, das Fernrohr und die Brille. Beide Antworten sind wahr. Aber um Emotion mit Einsicht zu verbinden, dazu ist Trauer nötig.“  (Zit.: Alexander Kluge)

Was liest Du derzeit?

Ob aus Trauer oder Erschöpfung, im Negativen wie im Positiven: Pier Paolo Pasolinis Texte begleiten mein Leben seit meiner Studien- und Lebenszeit in Florenz. Pasolini ist in seinem Denken, Reden und Handeln kaum zu fassen. In seinen Gedichten erzählt Pasolini von den Krisen und beschreibt die existenzielle Leere, die einerseits vom Neokapitalismus und andererseits vom „revolutionären Widerstand“ herrührt. Pasolini prangerte den Mord an der Kultur des Einzelnen durch Moden und Marken an und reagierte auf politische Ereignisse mit literarischen Interventionen und philosophischen Polemiken. Und manchmal schimmert durch seine Verzweiflungsverse bisweilen auch zarte Ironie.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Ich habe meine Kräfte verloren.

Ich weiß nicht mehr, was das ist: Vernunft.

Mein Leben versandet

– das Leben eines gefallenen Engels –

verzweifelt, dass die Welt

nur grausam ist

und meine Seele wütet.“

(Aus: Pier Paolo Pasolini, „La religione del mio tempo“, 1961, Garzanti

Vielen Dank für das Interview lieber Walter, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Walter Kratner, Künstler und Kurator

Foto_David Kranzlbinder

2.9.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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