„Für mich ist Protestantismus Kampf gegen Unterdrückung“ Rotraut Schöberl, Schriftstellerin, Buchhändlerin_ Wien 31.10.2022

Herzlich willkommen, liebe Rotraut Schöberl, Schriftstellerin, Buchhändlerin hier in der Lutherkirche in Wien Währing!

Rotraut Schöberl, Schriftstellerin, Buchhändlerin _ im Hof der Lutherkirche _ Wien/Währing _ Sommer 2022

Die evangelische Pfarrgemeinde Wien-Währung war auch der Ort Deiner Konfirmation. Erinnerst Du Dich noch an Deinen Konfirmationsspruch (Bibelzitat, welches auf der Konfirmationsurkunde vermerkt ist und bei der feierlichen Konfirmation überreicht wird. Anm.) ?

„Fürchte dich nicht, glaube nur!“ Markusevangelium 5,36 (Auferweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jaïrus, Anm.).

Es ist ein großer Hoffnungsspruch. Dieses Bibelzitat habe ich seither in verschiedensten Lebenssituationen oft und oft herausgekramt (lacht). Jeder von uns kennt diese Lebensmomente, -phasen, in denen es hilft etwas zu haben, an dem man sich aufrichten kann, wenn man am Boden ist und nur heult.

Welche Bezüge gibt es von Dir zur Pfarrgemeinde hier?

Wien Währing, der 18.Wiener Gemeindebezirk, die Lutherkirche, das war für mich eine ganz ganz große Heimat, da ich im Jungmädchenheim der Diakonissen (evangelische Jugendeinrichtung damals, heute ein Teil des Evangelischen Krankenhauses, Anm.) in der Schopenhauerstr.16 aufgewachsen bin.

Ich habe im Jungmädchenheim eine Liebe, Bestärkung, Aufmunterung kennengelernt, die mich fürs Leben gerüstet hat. Hier in der „Martinskirche“, wir haben sie „Martinskirche“ genannt (lacht), sangen wir sonntags im Chor.

Ich mochte den Kirchenraum hier immer sehr gerne und bin jetzt im Wiedersehen ganz berührt, gerührt.

Dann bleiben wir bitte noch bei den Eindrücken, Gedanken, die Dich jetzt bewegen? Welche Erinnerungen gibt es da?

Dieser Kirchenraum hat das Erleben, Erfahren im evangelischen Lebensraum des Diakonissen Wohnhauses gespiegelt – diese Klarheit im Leben und gleichzeitig das Licht und das Freisein. Du hast hier ja in der Kirche so viel Raum und es erdrückt dich nichts. Du hast das Gefühl, Du selbst wirst größer, Du hebst den Kopf und wenn Du noch oben schaust, fliegt Dein Geist. Der Raum beflügelt, ich mag die Lutherkirche (lacht).

Ich bin damals ja in das neue Jungmädchenheim in der Schopenhauerstr. gekommen, da es gerade von Purkersdorf (Niederösterreich, Nähe von Wien, Anm.) übersiedelt ist. Es war alles neu und toll.

Wir hatten damals ein Heimparlament, es wurde über alles abgestimmt. Es waren 28 Mädchen und ein Junge im Alter von vier bis zweiundzwanzig Jahren. Es war familienähnlich, gab kleine Zimmer, auch ein Klavier. Die Diakonissen haben gekocht, leider alle (lacht). Wir haben da manchmal protestiert und sagten, das machen lieber wir, bevor es eine bestimmte Diakonissin macht. Und wenn, dann darf sie nur Grießbrei machen (lacht). Es gab alles was einen Jahreslauf einer Familie ausmacht. Alles was ich als Optimismus heute noch auspacke, das habe ich aus dieser Zeit

Liegen in dieser Zeit auch die Wurzeln Deiner Begeisterung für das Lesen, Schreiben, für Bücher?

Das begann schon vorher. Vom ersten Moment an, als ich lesen konnte, habe ich Bücher gefressen (lacht). Als ich ins Jungmädchenheim kam, war Schwester Ruth (Diakonissin, Anm.) die erste, die schon nach wenigen Tagen sagte, „weißt Du, da in der Währingerstr. gibt es eine städtische Bücherei, wir gehen hin und Du bekommst einen Bibliotheksausweis“ (lacht). Seit der Zeit wusste ich, da ich zu Beginn meines Ankommens nicht gerne in Wien war, dass Bücher auch ein Ankommen erleichtern und auch eine Stadt vertraut machen.

Kultur und Kunst waren für uns damals sehr präsent. Wir gingen in die Oper, ins Konzerthaus, ins Theater. Du bist in allem, wenn Du interessiert warst, bestärkt worden. Das ist ja ganz wesentlich, Kinder in den ihren, nicht unseren, Neigungen zu bestärken. Den pädagogischen Unterbau habe ich erst Jahre später kennengelernt, etwa im Werk von A.S.Neill „Das Prinzip Summerhill“ und vieles wiedererkannt.

Morgens, wenn wir aufgeweckt wurden, oder selbst aufweckten, war das kein militärischer „Tagwacheruf“, sondern es wurde ein Lied gesungen “Die güldne Sonne voll Freud und Wonne“ (Paul Gerhardt, evangelischer Theologe und einer der bedeutendsten deutschsprachigen Kirchenlieddichter; Anm.), jeden Tag ein anderes Lied. Jede Diakonissin hatte da ihre Lieblingslieder und ihr Repertoire. Egal was am Tag vorher war, wenn Du so geweckt wirst, in den Tag gehst, Dich jemand anstrahlt, das macht etwas mit Dir. Du fängst anders an und der Tag wird heller. Ich habe das dann übernommen, bis mein Sohn mit sechs Jahren sagte, „Mama, könntest Du jetzt bitte aufhören zu singen, es nervt“ (lacht).

Wie alt warst Du als Du nach Wien gekommen bist?

Ich bin mit acht Jahren von Reichenau an der Rax über Wiener Neustadt, hier begann ich die Volksschule, nach Wien gekommen und war da zunächst todunglücklich, das war schon hart. Für die Mitschüler war ich die „Gscherte vom Land“. Wir schrieben ja in Wiener Neustadt  in der Schule noch mit Federkiel, Tinte und jetzt dann die Füllfeder. Dann kam ich ins evangelische Mädchenheim nach Purkersdorf. Das war für mich schon leichter, weil ländlicher in der Erinnerung an Reichenau. Und dann kam die Übersiedlung nach Wien und da war die Verzweiflung nicht lange mehr stark, denn da hatte ich ja bald den Bücherei-Ausweis (lacht).

Wir hatten beim Mädchenheim auch einen großen Garten beim Diakonissenkrankenhaus und da wusste ich, aha, in Wien gibt es auch etwas Grünes.

In unseren vier Mädchen Zimmer hatten wir einen 20m2 Balkon. Da machten wir auch tolle Experimente.  Wir hatten da die Idee, wir machen jetzt einen eigenen Eislaufplatz und schütteten so lange Wasser auf den Balkon, bis eine Eisfläche entstand. Der Balkon hat das ausgehalten und die Schwestern auch (lacht). Die Diakonissen hatten eine große Offenheit und Geduld mit uns.

Wir haben auch andere evangelische Einrichtungen in Österreich, etwa jene in Gallneukirchen in Oberösterreich (heute Evangelisches Diakoniewerk Gallneukirchen, Anm.) kennengelernt, fuhren da mit dem Bus von Wien hin.

Welche Schule hast Du in Wien besucht?

Ich war immer in öffentlichen Schulen, in Purkersdorf und Wien. In Wien habe ich die Hauptschule in der Schopenhauerstr. in Währung besucht. Wir waren da eine vier Mädels Gruppe mit mir, der „Gescherten“ vom Land, der Aranka, die 1956 aus Ungarn kam, der Sissy, ein französisches Besatzungskind und der Evelyn, ein amerikanisches Besatzungskind und wir hatten als Team unsere Stärken. Aranka war großartig im Rechnen. Ich war in Turnen kein As, wie man sich vielleicht vorstellen kann, aber irrsinnig gut im Aufsatzschreiben und habe es im Bedarfsfall geschafft, zwei Aufsätze, ich will jetzt nicht sagen Schularbeiten (lacht), zu schreiben. Es war eine sehr spannende, gemeinschaftliche Zeit und darüber könnte ein Film gedreht werden (lacht).

Wie ging es dann beruflich nach der Schule weiter für Dich?

Zunächst gab es den Wunsch, dass mein Beruf mit Büchern zu tun haben müsste. Ich war aber so glücklich im Mädchenheim, dass ich beschloss, ich möchte Diakonissin werden, „ich will das auch.“

Im Sommer war es im Haus immer leer und ruhig und da waren in meinem letzten Schuljahr evangelische Missionare aus Afrika, Kamerun, im Haus und haben Dia-Vorträge, gehalten. Ich durfte da in Vorbereitung, Ablauf mithelfen. Mich haben die Erzählungen ihrer Arbeit vor Ort mit Kindern und weiteren Aufgabenfeldern sehr beeindruckt, besonders auch Land und Kultur von Kamerun, und ich wollte auch dorthin. Ich bin dann zur Schwester Hildegard und sagte: „Wo kann ich die Ausbildung dafür machen? Wo gibt es eine Schule dafür, um Missionshelferin in Kamerun zu werden?“ Schwester Hildegard sagte, ich sei mit vierzehn Jahren noch zu jung dafür, die Diakonissenausbildung könne ich erst mit siebzehn Jahren beginnen, aber ich könne in den Evangelischen Anstalten in Waiern/Kärnten (Evangelische Sozialeinrichtung, heute Diakonie Kärnten, Anm.) die Haushaltungsschule besuchen und auch die Arbeit vor Ort  in den verschiedensten Bereichen kennenlernen. Gesagt getan, ich wurde angemeldet und übersiedelte nach Kärnten. Das Übersiedeln war ich schon gewohnt und in Kärnten gefiel es mir sehr gut.

Die Ausbildung in der einjährigen Haushaltungsschule war sehr umfassend. Wir hatten Dienst im Krankenhaus, auf der Säuglingsstation, wir waren auf der „Siechenstation“ (Palliativpflege der Zeit, Anm.) wie es damals hieß, es hatte auch ein großer Bauernhof dazugehört. Es gibt Fotos, wo wir am Kartoffelacker stehen. Das war wirklich toll.

In der Haushaltungsschule hatten wir auch eine Gartenausbildung und jede von uns hatte ein eigenes Beet, endlich ein erstes Beet (lacht). Für mich war die Garten- und Feldarbeit besonders schön und keine Anstrengung. Ich verfolgte da sehr gerne den Jahreslauf.

Die Eier holten wir von einem Bauernhof oberhalb unserer Schule. Im Winter war dies besonders lustig, weil wir den Eimer bei der Rodl (Rodelschlitten, Anm.) einhängten und dann runterführten. Ich erinnere mich aber, dass Aranka und ich einmal bei sehr hohem Schnee in Schussfahrt mit den Eiern zur Schule unterwegs waren, es war auch eine Straße mit kurzem Stoßgebet zu queren, und wir kamen an, ohne dass ein Ei zu Bruch ging. Das erzählen wir uns heute noch (lacht).

Der Schulunterricht war sehr lebensnah und praktisch auf das alltägliche Leben in Tätigkeiten und Notwendigkeiten bezogen – wie ich meinen/einen Haushalt führe, die Grundbegriffe der Ernährung, Essen, und auch etwa wie gehe ich in der Küche in der „Restlverwertung“ des Essens vor. Es gab da unheimlich viele Tipps, Anleitungen und ich muss heute lachen, wenn ich auf Instagram Ratschläge sehe, die als Entdeckungen gepriesen werden, aber damals ein ganz selbstverständlicher unserer Ausbildung waren. Das war toll und ich denke mir, es wäre gut, wenn dies jeder junge Mensch auch heute lernt. Denn es bedeutet Ressourcen zu sparen, Geld zu sparen, es kommt da so viel lebenspraktisch Wertvolles zusammen, das sollten wir auch heute fördern.

Schwester Brunhilde empfahl dann für mich eine weitere Ausbildung zur Lehrerin und nicht zur Diakonissin. Ich war da zunächst traurig. Wir fuhren dann nach Oberschützen (Burgenland, traditionsreiches Evangelisches Schul- und Ausbildungszentrum, Anm.) zur Aufnahmsprüfung ins musischpädagogische Realgymnasium. In Oberschützen taten sich dann wiederum neue Zugänge zur Kunst auf, ich hatte Klavierunterricht, es waren Schauspieler an der Schule, die Szenen vorführten, das Lesen hatte auch einen ganz besonderen Stellenwert. Ich hatte in unserer Mädchengruppe in Wien schon immer gerne vorgelesen, schon mit acht Jahren, etwa Berichte aus aller Welt, über den Amazonas, oder die Berichte der Reisen Thor Heyerdahls, das habe ich jeden Abend vorgelesen. Es ist heute noch für uns ein running gag „Rotraut liest schon wieder vor“ (lacht).

In der Ausbildung in Oberschützen gab es dann persönliche Ereignisse um den Tod meines Vaters, die dann für mich zu einem Einschnitt, Bruch auch mit der Ausbildung führten, und ich eine Buchhändlerlehre in Wien begann.

Wie war das demokratische Zusammenleben im Mädchenwohnheim damals Anfang/Mitte der 1960er Jahre organisiert?

Es gab Sitzungen und da wurden dann Fragen behandelt wie: wo dürfen die Größeren rauchen? Darf das Klavier um 21h noch benutzt werden, vor allem für Rock`n`Roll, oder nicht? Darf die Schwester Ruth weiter kochen? Der Speisesaal wurde zum Sitzungsaal und Punkt für Punkt wurde dies von allen in Abstimmung entschieden. Von der Kleinsten bis zur Größten hatte jede eine Stimme. Wenn jemands sagte, es stinkt nach Rauch am Gang, dann wurde entschieden, dass im Hof geraucht werden musste.

Jede Stimme zählte gleich viel und es gab da keine Hierarchien, die bestimmend waren in der Entscheidungsfindung?

Es war ein gleichberechtigtes, demokratisches Miteinander, in dem wir die Möglichkeit von Tagesabläufen, etwa die Essensorganisation, entschieden haben. Das funktionierte auch, es gab da niemand in der Gruppe, die das System sprengen wollte, etwa mit Selbstdarstellung. Es wurde viel diskutiert und es wurde versucht, dass alle mit den Entscheidungen leben können und glücklich sind. Das war auch sehr lehrreich für das Leben.

Wann warst Du in den Evangelischen Anstalten Waiern/Kärnten zur Ausbildung und wo hast Du gewohnt?

Das war 1966/67. Ich besuchte die Haushaltungsschule der Anstalten und wohnte auch im Haus, es war ein Internat. Das war ein zweistöckiges Gebäude. In den unteren Räumlichkeiten waren die Klassenräume, Küchen und weiteres und oben waren die Schlafsäle.

Wo befand sich das „Siechenheim“, in dem Du auch in der Ausbildung tätig warst?

Das befand sich im obersten Stock des Evangelischen Krankenhauses Waiern. Heute würde man da Pflegestation sagen. Für uns war das damals ein theoretischer Zugang wie praktische Erfahrung zum Thema „Wie gehe ich mit Sterbenden um?“. Du würdest da konfrontiert mit allen Dingen, die mit dem Leben zu tun haben, von dem Baby auf der Säuglingsstation bis zur sterbenden Frau, der Du die Hand gehalten hast. Mir tut keine Sekunde dieser Erfahrungen leid.

Es gab ja in den Evangelischen Anstalten Waiern auch jährliche Jahresfeste, die in der großen Mehrzweckhalle der Stadt Feldkirchen mit Beteilung vieler Gruppen, auch mit internationalen Festrednern, gefeiert wurden. Warst Du da auch beteiligt und gibt es Erinnerungen daran, etwa an das Festbankett?

Ja, ich erinnere mich an das Fest. Wir führten da auch einen Bändertanz (Gruppentanz) auf.

Jahresfest der Evangelischen Anstalten Waiern _ Feldkirchen/Mehrzweckhalleum 1970

Welche Erinnerung hast Du an das kirchliche Leben in Wien und Waiern?

Das gehörte dazu und Kirche, Kirchengemeinschaft, war ein wesentlicher Teil des Lebens. Ich habe es immer als umhüllende, stützende Stärkung empfunden, ohne dass ich jetzt viel darüber nachgedacht hätte –  und ich habe mich wohlgefühlt im Verband mit den anderen – du hast deinen Platz und wirst umsorgt und beschützt, so habe ich es wahrgenommen. Ich habe gewusst, wenn ich großen Kummer habe, kann ich zu dieser oder jener Schwester gehen und da kann ich mich fallenlassen und werde beschützt und auch verteidigt.

Ende der 1960/70er Jahre gab es dann ja auch gesellschaftlich vermehrt Kirchenaustritte und manche sagten zu mir:“Warum zahlst Du Kirchensteuer in der evangelischen Kirche, warum trittst Du nicht aus?“ Und ich sagte:“ Nein, ich trete nicht aus. Das was ich so positiv erfahren habe in der Evangelischen Kirche sollen viele andere auch erfahren und deswegen zahle ich meine Kirchensteuer.“ 

Welche Ausbildungsschwerpunkte gab es in der evangelischen Haushaltungsschule in Waiern?

Der Schwerpunkt lag auf der Führung eines Haushaltes, das reichte von der Essenszubereitung bis zur Kostenrechnung. Also etwas, das heute auch prinzipiell nicht schadet.

Beim Essen war es ja so, dass nicht Obst und Gemüse zu jeder Jahreszeit verwendet und weltweit eingeflogen wurde, sondern es ging darum, welches Obst, welches Gemüse ist zu welcher Jahreszeit regional reif und erntebereit. Dies war dann immer verbunden auch mit der Zubereitung und dies für 40/50 Personen. Es waren immer mindestens drei Gänge am Tisch, bei der Prüfung dann sechs Gänge. Viel Wert wurde auch auf Theorie gelegt, mir gefiel dabei besonders das Fach „Gartenarbeit“ (lacht). Da hatten wir jede ein Beet, das wir am Anfang des Schuljahres zugewiesen bekommen haben mit Samen, Gartengeräten und laufenden Tipps in der Besprechung mit der Lehrerin, die von Beet zu Beet ging. Da wurde gelobt oder auch Pflanzen ausgerissen, es wurde dann auch bewertet. Ein eigenes Beet zu haben, war toll. Ich werde nie meine ersten eigenen Kohlsprossen vergessen, diese zwei Büsche waren riesig und ja auch im Winter noch essbar. Wir machen uns in Mitteleuropa ja keine Gedanken, wie viel Gemüse auch im Winter frisch ist. Da gibt es ja viele Möglichkeiten auch am Balkon. Ich überlege derzeit etwa Kartoffeln zu pflanzen, kann mich aber noch nicht für die Sorte entscheiden. Aber keine schmeckt mehr so wie in der Jugend, das ist wie mit den Tomaten (lacht).

Gemüseacker _ Haushaltungsschule Waiern _ Staberhof _
Feldkirchen_Kärnten 1966

Der weitere Unterricht war auch etwa Zeitgeschichte, was für mich sehr interessant war, weil es auch regional bezogen war. Ernährungslehre war auch sehr spannend. Die Ernährung sollte gesund, saisonal und auch in größeren Mengen hergestellt werden können. Es waren auch viele Töchter von Bauernhöfen in der Haushaltungsschule, die dies besonders im späteren Berufs-, Familienleben brauchten.

Ernährung in so umfassenden Aspekten zu beleuchten und theoretisch wie praktisch kennenzulernen wäre auch heute als Unterrichtsfach sehr wichtig für alle, etwa zu wissen welche Ernährungsintoleranzen es gibt und wie ich die Ernährung darauf abstimmen kann.

Beim Essen habe ich nur den „Sterz“ (Maisgrieß gekocht, meist mit Milch gegessen, Anm.) gehasst, den gab es 3x die Woche. Ich habe das dann mal 20 Jahre verweigert.

Das Leben in Schule und Internat war straff organisiert. Um 21h abends wurde das Licht ausgemacht. Wir hatten aber Taschenlampen und ich las mit dieser vor (lacht).

Der Garten war direkt an die Schule angeschlossen?

Ja, das Schulgebäude hatte eine L-Form, davor war der Garten. Der Küchenausgang war gartenseitig. Da gibt es ein witziges Foto, auf dem Leiterin der Schule, Diakonissin Hildegard Lintner, in die Kamera lächelt und nicht die hingeworfenen Geschirrtücher auf der Wiese sieht (lacht).

In der Ausbildung an der Wairer Haushaltungsschule hast Du gelernt, wie Du ohne Geld aber mit ein bisschen Erde Deine Familie versorgen kannst. Da war auch Hauspflege dabei, wie putze, erhalte ich die Holzmöbel, Böden etwa. Was muss ich tun, um Dinge des Lebensraumes lange zu erhalten – das war praktischer Lehrplaninhalt.

Ich erinnere mich auch wie wir in der Gruppe zum Flatschacher Teich schwimmen gingen und auf der Wiese dem Sonnenuntergang zusahen. Am Nachhauseweg durch den Wald sangen wir dann. Auch dann abends im Garten. Wenn ich daran denke, bin ich auch heute noch ganz gerührt. Wenn ich heute abends im Garten in Wien trällern würde, gibt es bestimmt Rufe:“ Es ist schon 23h!“. Damals war das möglich.

Gab es auch einen Schwimmkurs am Flatschacher See?

Entschuldige, damals war es so, dass wir alle schwimmen konnten. Wenn Du in der ersten Klasse Volksschule nicht schwimmen konntest, war das außergewöhnlich. In Kärnten ist ja überall ein See und da war es so, dass klein und groß zum See gingen und es mit-, voneinander lernten, ohne spezielle Kurse.

Ich habe als Kind in der Schwarza im Höllental (Fluss in Niederösterreich, Anm.) schwimmen gelernt. Seither bin ich sehr abgehärtet. Im Hochsommer hatte die Schwarza 16`Wassertemperatur. Es ist ein reißender Fluss, in dem Du kräftige Tempi machen musst und auch nicht die Balance verlieren darfst, um Dich nicht an den spitzen Steinen zu verletzen. Dann wieder gibt es Stellen mit 1 1/2m Tiefe, in denen Du sehr gut aufgrund der Strömung schwimmen kannst, ohne den Wasserplatz zu verlassen. Es ist ein Wildbach, der viel Aufmerksamkeit und Vorsicht erfordert, aber wunderschön ist.

Haushaltungsschülerinnen am Flatschacher See_
Feldkirchen_Kärnten _ 1967

Gab es auch weitere Kontakte, Zusammenarbeit mit Schulen, Betrieben der Stadt Feldkirchen oder ökumenische Kontakte?

Nein, nicht das ich wüsste. Ich hatte auch das Gefühl, die Evangelischen Anstalten sind eine einzige Insel mit einem Burggraben (lacht). Unsere Wege, oft mit Gesang begleitet,  waren meist innerhalb der Evangelischen Anstalten, d.h. Haushaltungsschule, Kinderheim, Kirche, Krankenhaus, Bauernhof (Staberhof), Flatschachersee.

Wie war es mit den Zugängen zu Literatur, Theater, Kunst in Waiern?

Im Vergleich zu Wien und Oberschützen war da „Wüste“. Aber wenn man die Kraft der Bücher kennt, ist das wurscht, die kann man sich überall organisieren. Ich habe dann mindestens immer zehn Bücher gleichzeitig gelesen.

Wie war der Wochenablauf in der Haushaltungsschule Waiern?

Montag bis Samstag war Schule, es gab auch Sonntagsdienste. Es war damals normal, dass Du 50 und mehr Wochenstunden hattest. In den Ferien fuhren dann viele nachhause.

Altenheim_Evangelische Kirche Waiern _ um 1970

Wo liegen Deine evangelischen Wurzeln?

Ich bin in Reichenau an der Rax (Niederösterreich, Anm.) aufgewachsen, die evangelische Kirche ist in Naßwald. Ich liebe diese Kirche in Ihrer Schlichtheit. Diese geht in den evangelischen Ursprüngen auf das 18.Jahrhundert zurück, eine Holzkirche, die auch einen Turm hatte, was ja bei Joseph II (Toleranzpatent 1781, Anm.) noch verboten war. Historisch war auch das Lesen und Schreiben im evangelischen Leben sehr wichtig und eine Schule an die Kirche angeschlossen. Es war das Wissen da, dass die Kraft der Buchstaben das Leben verändert. Es war ein sehr autarkes Leben, in dem alles selbst gemacht wurde. Heute gibt es auch ein sehr engagiertes Laientheater neben der Kirche in der Huebmer Holzknechthütte.

Als ich nach Wien kam, wo Du als Protestantin ja untergangen bist, sagte ich dann, ich komme aus einem Ort, in dem gibt es nur Protestanten – „Ein Blödsinn!“ schüttelten meine Freunde den Kopf. Und ich sagte:“Nasswald. 65 Einwohner, 64 Protestanten, einer konfessionslos (lacht).“

Wir sitzen hier in Deiner Konfirmationskirche in Wien-Währing, hinter uns steht das Taufbecken, Du hast vom tragenden Wasser der Schwarza gesprochen. Ist der Glaube etwas Umgebendes, Lebensspendendes für Dich mit Wasser symbolisch vergleichbar?

Lass` mich das etwas anders formulieren. Das lebendige Wasser, der tragende Glaube waren für mich die Möglichkeiten, die mir die Diakonissinnen boten, öffneten. Es ist die Erkenntnis, dass wenn jemand da ist, die/der das Gute will, dann wird sie/er es umsetzen. 

Hat es dann später noch Kontakt gegeben, oder gibt es noch heute Kontakte mit den Diakonissinnen?

Nein, das Diakonissinnen Kinder/Jugendheim in der Wiener Schopenhauerstr., existierte dann auch nicht mehr lange. Meine Freundin Aranka hat dann noch die Diakonissin Maria Latky in Norddeutschland besucht. Es gab aber keinen weiteren Kontakt. Ich traf dann Schwester Brunhilde später nochmal. Aber ich denke, das ist gut wie es ist und die glückliche Erinnerung bleibt.

Wie war Dein Weg zur Literatur, zum Beruf als Buchhändlerin wie als Schriftstellerin?

Das war vom ersten Lesen an vorgegeben. Als es mit der Ausbildung zur Diakonissin nichts wurde, wollte ich unbedingt etwas mit Büchern machen und wurde Buchhändlerin. Das war dann auch ein Toröffnen.

Das Lesen und dabei als Buchhändlerin selbst zu „graben“, Bücher zu entdecken, das ist schon ganz was Besonderes.

Als Schreibprojekt arbeite ich jetzt gemeinsam mit einem Freund an einem Roman, das macht sehr viel Spaß und ich bin aufgeregt als wäre ich zwölfeinhalb. Wir sind jetzt weit über der Hälfte und es sollte in den nächsten zwei Monaten fertig sein. Was für eine schöne Herausforderung!

Im Romanschreiben bin ich jetzt in einem völlig anderen Leben. Du stehst in der Früh auf und bist im Geist in den Figuren. Ich wusste nicht, wie das funktionieren würde. Das letzte Mal als ich aus reinem Vergnügen schrieb, das war in Oberschützen in den 1960er Jahren. Seitdem waren es Gebrauchstexte. Und dann das erste Mal schreiben, das ich natürlich zelebriert habe. Ich saß in Grado, ein grauer Morgen, ich dachte, ich probier`s und wer weiß, vielleicht geht alles schief. Und als ich nach zwei Stunden wieder aufs Meer sah, wusste ich, das geht (lacht).

Wie und wo schreibst Du in Wien?

Im Garten. Wenn es im Sommer zu heiß ist, dann drinnen mit offenen Türen. Die Katze ist friedlich, es geht gut.

Schreibst Du am Laptop und überarbeitest Du Texte oft?

Ja, ich schreibe am Laptop. Derzeit überarbeite ich den Text nur sehr wenig. Vielleicht werde ich aber das erste Kapitel neu schreiben (lacht). Ich habe auch eine sehr gute Lektorin an meiner Seite.

Gab es auch Schreibimpulse in Deinem Aufwachsen im evangelischen Kontext?

Wenn ich länger nachdenke…der Ursprung, das Thema meines Romans jetzt sind die Kanarischen Inseln, die ich seit über zwanzig Jahren im Winter, Jänner-Februar, besuche und weil ich mich vor sieben Jahren in eine dieser Inseln, nämlich La Palma, sehr verliebte, dachte ich, ich muss dies den Leuten erzählen –  wie es auf dieser Insel unvergleichbar möglich ist, zu wandern, die Sterne zu beobachten, die freundlichsten, unhektischsten Menschen zu treffen. Dies ist vielleicht missionarisch und hat evangelische Wurzeln (lacht).

Wann ist die Erscheinung Deines Romans geplant?

Wenn es klappt im Frühjahr 2023. Es sollten ja sieben Romane werden. Für jede Insel ein Roman. Ich kenne alle Inseln und habe mich da von Insel zu Insel durchgearbeitet (lacht).

Es soll auch einen achten Band, Bonusband geben, der einer mysteriösen Insel, nämlich San Borodon, vergleichbar „Nessy“ Loch Ness, gewidmet ist. Und da gibt es seit 500 Jahren Augenzeugenberichte (zwinkert).

Welche Zugänge hast Du zur Bibel?

Es ist ein ganz tolles Leseerlebnis. Ich habe die Bibel zweimal vollständig durchgelesen und sehr oft in Auszügen, weil man sich ja nicht alles merkt.

Das erste Mal las ich die Bibel vollständig in Jugendjahren, so mit dreizehn/vierzehn Jahren, als ich den Entschluss fasste, Diakonissin zu werden. Und mit vierundzwanzig/fünfundzwanzig Jahren nochmal komplett. Und dann immer wieder in Teilen, bestimmte Erzählungen, Kapitel, Abschnitte.

Ein schwedischer Autor veröffentlichte in den 1980er Jahren ein Buch und verwies dabei immer wieder auf die Bibel und Originalstellen. Ich schlug dann auch nach und er hatte recht (Torgny Lindgren, Bathseba; Schweden 1984).

Das Buch für die Insel ist die Bibel. Da ist alles drin – Religion, Philosophie, Krimi, Liebesgeschichten, wunderbare Poesie, Abenteuer, cliffhanger – alles da. Und der Dünndruck bietet die Chance, dass Du wirklich lange dran lesen kannst (lacht).

Wir blicken hier vom Altarraum der Lutherkirche auf die Orgel. Wie hast Du Kirche und Musik erlebt?

Als Kind und Jugendliche sehr viel singend, auch hier in der Kirche.

Was macht für Dich das Evangelische, das Evangelisch-Sein aus?

Widerstand. 

Historisch gesehen, hatten Protestanten in Österreich nie Macht, sie waren immer auf der Seite der Unterdrückten. Hilfe und Unterstützung war da immer ganz wichtig, in und zu allen Richtungen.

Für mich ist Protestantismus Minderheit, Kampf gegen Unterdrückung.

Wir sollten jeder Minderheit helfen und sie unterstützen, dass sie nicht an die Wand gedrückt wird.

Welche Erinnerungen hast Du an Deine Konfirmation hier in der Kirche?

Ich war damals total schick angezogen, schwarz-weiß verschränkt, Popart Style, das war cool, selbst die Schuhe, grauenvoll (lacht). Ich habe da noch ein Foto. Wir waren damals sicher mehr als zwanzig Konfirmanden:innen.

Bist Du mit der Pfarrgemeinde hier noch verbunden?

Ich bin Mitglied der Evangelischen Kirche A.B., wohne jetzt aber in Wien-Meidling, da gibt es auch eine evangelische Pfarrgemeinde in der Biedermanngasse, die auch einen weiten Seelsorgeraum hat.

Darf ich Dich abschließend um eine Buchempfehlung bitten?

Buchtipp ist natürlich schon sehr schwierig. Weil ich habe da nicht nur einen (lacht). Mein Sommerlieblingsbuch ist aber von Stefan Kutzenberger „Kilometer null“.

Hast Du den Bachmannpreis mitverfolgt?

In Teilen, ich freue mich über die Preisträgerin Ana Marwan.

Wie verstehst Du Deinen Konfirmationsspruch „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ Mk 5,36 heute in unseren so herausfordernden Zeiten?

Ich sehe es als Optimismus. Es ist zwar alles zum Fürchten, aber glaube daran, dass wir es schaffen.

Rotraut Schöberl, Schriftstellerin, Buchhändlerin _ im Hof der Lutherkirche _ Wien/Währing _ Sommer 2022

Herzlichen Dank, liebe Rotraut, für Dein Interview! Viel Freude und Erfolg für alle Projekte!

Rotraut Schöberl, Schriftstellerin, Buchhändlerin

https://www.frauschoeberl.at/

Interview _Lutherkirche, Wien 3.8.2022_ Walter Pobaschnig _Wien.

Fotos_Rotraut Schöberl (Haushaltungsschule Waiern/Konformationsurkunde) _ Portrait: Walter Pobaschnig _ Evangelische Anstalten: Archiv Waiern.

Walter Pobaschnig 10_22

https://literaturoutdoors.com

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