Lieber Edgar, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Chaotisch. Der Morgen beginnt mit einer Tasse Kaffee und zwei Zigaretten. Danach meditiere ich und spreche ein Gebet. Einigermaßen angekommen in der Gegenwart, versuche ich, die unterschiedlichen Aufgaben miteinander abzugleichen: Meinen Job im sozialen Bereich, Theaterproben, Text lernen und schreiben, dazu Sport.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Es fällt mir schwer, für andere zu sprechen. Ich kann nur wieder geben, was ich in meiner Umgebung wahrnehme, und das ist eine gefährliche Mischung aus Orientierungslosigkeit und Angst. Darum ist Orientierung das Erste, was mir zu dieser Frage einfallen würde. Ich vertrete die Überzeugung, dass Orientierung nur möglich ist durch nüchterne Dialektik und Selbstfürsorge. Und ich behaupte nicht, dass mir das immer gelingt. Viele Debatten werden derzeit extrem emotionalisiert geführt, angefeuert durch soziale Netzwerke und Medien. Einer Frage auf den Grund zu gehen, braucht aber Zeit. Das haben wir vergessen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater, der Literatur, der Kunst an sich zu?
Wesentlich wird sein, dass wir Farbe bekennen und klar formulieren, zu welchen Werten wir stehen. Die banale Frage, wie wir leben wollen, haben wir – aus welchen Gründen auch immer – einfach nicht gestellt. Die Multikrisen wären niemals ohne Prokrastination entstanden. In Deutschland bin ich ein Kind der Ära Helmut Kohl. Rückblickend betrachtet war das eine Zeit des bequemen Nihilismus, weil wir finanziell abgesichert waren. Unabhängig davon, dass es selbstverständlich sehr engagierte NGO‘ s gegeben hat: Die Sorgen, die wir hatten, waren zum Großteil privater Natur. Das hat sich radikal geändert. Darum hat meine Generation, die der Post 68er gegenüber der nachfolgenden Generation eine besondere Bringschuld. Die Klimakatastrophe hätte verhindert werden können. Wahrscheinlich war meine Generation zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber das soll keine Ausrede sein. Der Geist, der damals herrschte, war apokalyptisch. Ich bin ein Post-Punk-Kind. Bis sich das änderte, musste ich das 30. Lebensjahr erreichen.

Zum zweiten Teil der Frage:
Ich glaube, dass Theater, Literatur und Kunst überhaupt keine Aufgabe haben. Das wird manche jetzt verwundern, besonders deshalb, weil ich ein glühender Anhänger des Epischen Theaters bin. Gemeinhin erwarten wir von Kunst, dass sie uns Antworten liefert. Antworten liefert lediglich die Philosophie, und selbst in dieser Disziplin ist es so, dass eine Antwort eine neue Frage voraus wirft (abgesehen von materialistischen Strömungen). Die Kunst gehört erst einmal sich selbst. Jemand schreibt ein Gedicht, weil diese Person ein Gedicht schreiben muss, sie kann rein organisch nicht anders. Etwas in uns will freigelegt werden, abgeschält. Wenn wir uns durch die Pandemie an etwas erinnert haben, dann daran, dass wir Menschen sind, die nach Begegnung lechzen. Diesbezüglich ist das Internet lediglich ein Surrogat.
Um die Frage abzurunden, kann ich aber durchaus sagen, was ich mir von der Kunst erhoffe:
Das ist vor allem mehr Wagemut. Viele Künstlerinnen und Künstler leben knapp über dem Existenzminimum und werden dafür von der Gesellschaft geächtet. Gewiss, niemand in unserem Kulturkreis, der oder die Theater macht, muss heute noch um sein Leben fürchten. Aber eine gewisse Form der Ächtung ist geblieben, wenn jemand von seiner Kunst nicht leben kann, was nicht das Allergeringste über den Wert eines Werkes aussagt. Überhaupt ist Theater wohl die undankbarste Gattung , weil sie endlich ist. Ein Text bleibt, ein Gemälde bleibt, das gleiche gilt für den Film. Darum haben es Theatermacher, erst recht in der Zeit der digitalen Revolution, ganz besonders schwer. Es spielt keine Rolle für mich, dass Inszenierungen aufgezeichnet werden können. Das spiegelt nicht im Entferntesten wider, was auf der Bühne geschieht, zum Beispiel die Atmosphäre einer Aufführung. Was also tun? Pädagogisch lösen wir das Problem jedenfalls nicht. Pädagogik in der Kunst halte ich für einen absoluten Irrglauben. Dafür darf man mich gern kritisieren. Allerdings glaube ich an glückliche Zufälle. Und ein glücklicher Zufall wäre, dass das Theater (ich würde lieber im Plural sprechen, denn es gibt unzählige Formen außerhalb unserer Stadttheaterkultur, welche nicht nur nicht gewürdigt, sondern nicht einmal beachtet werden, mittlerweile haben geschätzte 90 Prozent der Schauspieler und Schauspielerinnen in der freien Szene eine Ausbildung!) einen Weg finden kann, der es dieser Kunst möglich macht, gleichberechtigt existieren zu können neben der Filmkunst und den Angeboten aus dem Internet. Zudem wünsche ich mir eine radikale Entschleunigung in nahezu allen Lebensbereichen. Dafür müssen wir kein Meditationsseminar besuchen. Der Romanautor Karl Ove Knausgard hat dies radikal umgesetzt. Jede Sekunde ist von Bedeutung, obwohl rein gar nichts passiert.

Was liest Du derzeit?
Wundervolle Werke, und zwar:
Lyrik: „In den Pfützen der Stadt wächst ein Stück Himmel“ von Fabian Lenthe.
Prosa: „Tagebücher 1910 – 1923“ von Franz Kafka und „Ahasver“ von Stefan Heym.
Philosophie: „Die Seele des Menschen – Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen“ von Erich Fromm.
Ein großartiges Lehrbuch, mit welchem ich dreißig Jahre verbringen könnte: „Die Kunst des Schauspielers“ von Michael Tschechow.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Für ihre Nahrung und Kleidung arbeiteten sie nur wenig und leicht. Sie kannten weder Streit, noch Eifersucht und wussten nicht einmal, was das bedeutet… Eine ruhige, tiefe, beschauliche Ekstase.“
F.M. Dostojewski

Vielen Dank für das Interview lieber Edgar, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theater-, Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Edgar Bangert_Schauspieler, Theaterregisseur, Schriftsteller
http://www.edgarbangert.de/traum.html
Fotos_1 Jeanne Prager; 2,3 Sven Christian Schramm; 4 Zartelli; 5 Edgar Bangert.
31.8.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.