„Hilfe sollte eine Selbstverständlichkeit zwischen Menschen sein“ Ana Marwan, Bachmannpreisträgerin 2022 _ Sommerinterview Teil II _ Station bei Malina _ Wien 6.8.2022

Ana Marwan, Schriftstellerin, Bachmannpreisträgerin 2022_
Station bei Malina_Wien

Liebe Ana, ein herzliches Willkommen hier in der Ungargasse in Wien 1030, die literarischer Hauptschauplatz des Romans „Malina“ (1971) von Ingeborg Bachmann ist.

Wir führen unser Interview im Pressebüro der Evangelischen Kirche Österreich in der Ungargasse 9, 1030 Wien. In welchem religiösen Kontext bist Du aufgewachsen?

Ich bin in Murska Sobota im Nordosten Sloweniens, damals Yugoslawien, geboren und als ich zwei Jahre alt war sind wir nach Ljubljana umgezogen. Das war im Kommunismus, der Sozialismus genannt wurde. Es gab bei uns kein Weihnachten und überhaupt keine religiöse Feier. In anderen kommunistischen Ländern liefen ja, etwa in der Tschechoslowakei, religiöse Feiertage und Kommunismus parallel. Wir haben das nicht so gelebt.

Wir hatten in der Schule nur ein Mädchen, das einen Kirchenbezug hatte und Gottesdienste besuchte. Mir war das fremd, ich katte keinen Kontakt zu Kirche und Religion. 

Erst später habe ich verschiedene Religionen kennengelernt. Ich interessiere mich für Religionen, glaube aber, dass es einen Unterschied ausmacht, wenn man nicht unmittelbar damit aufwächst.

Die geistige Komponente ist etwas sehr Wichtiges für den Menschen, finde ich.

Gibt es familiär evangelische Wurzeln?

Mein Vater bezeichnet sich als evangelisch. Das ist auch Familientradition. Das Gebiet im Nordosten Sloweniens in der Nähe des österreichischen Bad Radkersburg ist historisch überwiegend protestantisch.

Die Evangelische Religion hat in Slowenien auch mit Nationalstolz zu tun, dies war auch in meiner Familie so und bezieht sich auf die reformatorische Übersetzung der Bibel im 16.Jahrhundert (Anm: Primož Trubar, 1508 – 1586, Übersetzung des Neuen Testamentes in der deutschen Übersetzung Martin Luthers in die slowenische Sprache). Wie der Glaube in der Familiengeschichte gelebt wurde, weiß ich nicht.

Mir fällt ein, der erste Mann meiner Großmutter war Pfarrer. Auf den Fotos ist dieser weiße Kragen zu sehen.  Anm: Beffchen, weißer Kragen am Talar, der Amtstracht evangelischer Pfarrer:innen.

War Religion im Alltag Deiner Kindheit, Jugend öffentlich sichtbar?

Unser „Gott“ war Tito (Präsident Jugoslawiens 1945-80, Anm.)  damals. Überall gab es Statuen und Bilder von ihm. Im Schulunterricht haben wir jeden Tag vor den Bildern gegrüßt – „Wir gehen mit Tito vorwärts“ – sagten wir unisono. Das war die Religion damals.

Hattest Du als Literaturwissenschaftlerin bestimmte Zugänge zur Bibel?

Im Studium habe ich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Auszüge der Bibel gelesen. Im Allgemeinen hat mich die Zeitgemäßheit der Texte überrascht. Die Bücher Kohelet und Hiob fand ich in ihrer existentiellen Radikalität interessant.

In Deinem Bachmannpreistext thematisierst Du in der Passage der Rettung der Wechselkröte das Verhältnis von Glück, Dankbarkeit, Barmherzigkeit. Wie siehst Du dies im Leben?

Ich denke, wir leisten Hilfe aber wir tun uns selbst im Annehmen von Hilfe schwer. Wenn wir Hilfe bekommen, fühlen wir uns schuldig und möchten dies so bald wie möglich wieder gutmachen, zurückzahlen und dies wird auch oft erwartet.

Hilfe kann auch, wenn die Positionen von stark und schwach sehr eklatant sind, eine großzügige, selbstzufriedene Geste sein, die Dankbarkeit erwartet. Dankbarkeit wird da zur Bezahlung. Aber Du hast nichts gegeben, wenn Du etwas erwartest.

Vor allem ist man heute über Undankbarkeit entsetzt. Das finde ich sehr falsch. Hilfe sollte eine Selbstverständlichkeit zwischen Menschen, ohne Erwartung einer Gegenleistung, sein.

Wir fühlen uns sehr oft schuldig anstatt glücklich, wenn uns jemand hilft.

Woher kommt dieses Schuldgefühl, welches Erbe ist das?

Ein evangelisches (lacht)? Über dieses Thema müsste ich jetzt mehr nachdenken, das kann ich nicht so schnell beantworten, das würde Zeit brauchen. Ich schätzte diese Fragen und Überlegungen.

Wie nimmst Du die Schrecken des Krieges in Europa derzeit als Schriftstellerin wahr? Welchen Ausweg kann es da geben?

Ich bin keine politische Expertin. Persönlich ist es für mich unfassbar, dass es zu diesem Krieg in Europa gekommen ist. Das ist extrem schmerzhaft und betrifft alle Kriege auf dieser Welt. Das ist nicht zu akzeptieren.

Warum führt der Mensch Krieg?

Wir streiten als Individuen im Alltag dauert miteinander, deswegen ist es nicht überraschend, dass wir auch als Nationen streiten. Ich hoffe einfach nur, und dies ist meine große Hoffnung, dass wir endlich einmal ethische Fortschritte machen und als Individuen wie Gruppen, Nationen miteinander anständig umgehen können.

Was sind Deine derzeitigen Projektausblicke?

Grundsätzlich würde ich auch sehr gerne wieder etwas Ruhe haben, um schreiben zu können. Ich habe bisher zwei Bücher und weitere Erzählungen veröffentlicht, jetzt bin ich persönlich sehr gespannt, wie meine weiteren Texte aussehen werden (lacht).

Einsamkeit war immer das zentrale Thema in meinem Schreiben und wenn sich das jetzt in meinem Leben geändert hat, bin ich sehr neugierig, wie es sich auswirken wird. Ich lasse mich überraschen, worüber ich jetzt schreiben werde.

Wir sind auch gespannt und freuen uns auf Deine weiteren Texte, Bücher!

Wie hast Du die für Dich so erfolgreichen 46. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt erlebt?

Wir wurden von der Organisation sehr gut begleitet und waren als Teilnehmende ein sehr gutes Team. Es gibt auch noch guten Kontakt miteinander und wir wollen uns nächstes Jahr wieder treffen.

Persönlich war es für mich schon eine große Überraschung, dass ich unter den Teilnehmenden war, das war ein Schock (lacht). Ich habe nicht mit einer Teilnahme und dann schon gar nicht mit einem Sieg gerechnet. Das waren alles extreme Überraschungen.

Ich freue mich jetzt sehr darüber und auf neue Erlebnisse, Erfahrungen als Schriftstellerin!

Ana Marwan, Schriftstellerin, Bachmannpreisträgerin 2022_
Station bei Malina_Wien

Vielen Dank für das Interview, liebe Ana, herzliche Gratulation zum Bachmannpreis 2022, viel Freude und Erfolg weiterhin für alle Projekte und erholsame Sommertage!

Station bei Malina_ Sommerinterview: Ana Marwan, Schriftstellerin, Bachmannpreisträgerin 2022

Aktueller Roman: „Der Kreis des Weberknechts“ Ana Marwan, Otto Müller Verlag.

Interview Teil I _ 30.7.2022

https://literaturoutdoors.com/2022/07/30/ich-versuche-in-meinem-schreiben-vom-traditionellen-erzahlen-wegzukommen-ana-marwan-bachmannpreistragerin-2022--sommerinterview-teil-i--station-bei-malina_wien-30-7-2022/

Interview_Walter Pobaschnig , Wien 7_22

Fotos_Gespräch: Marco Uschmann, Chefredakteur „SAAT“ Evangelische Kirchenzeitung Österreich, Chef Amt für Hörfunk/Fernsehen Evangelische Kirche Österreich

Foto_Portrait: Walter Pobaschnig.

Alle Fotos_Ungargasse/Wien _ Romanschauplatz „Malina“ Ingeborg Bachmann, 1971.

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