
Station bei Malina_Wien
Liebe Ana, herzliche Gratulation zum Bachmannpreis 2022 und ein herzliches Willkommen hier in der Ungargasse in Wien 1030, die literarischer Hauptschauplatz des Romans „Malina“ (1971) von Ingeborg Bachmann ist.
Ingeborg Bachmanns erster und einziger Roman spielt in Wien und beginnt mit einer Vorstellung, Beschreibung der Protagonisten:innen. Darf ich Dich zu Beginn des Interviews um eine Vorstellung Deinerseits in drei/vier Sätzen bitten?
Da muss ich schon bei der ersten Frage passen (lacht) – ich weiß nicht, wer ich bin – aber ist es nicht in „Malina“ auch so? (lacht)
Fragen der Identität in allen Wandlungen, Begegnungen, Krisen sind Themen meines Schreibens.



Es wird vom Menschen erwartet, dass er sich definiert, dass er weiß, wer er ist, aber wir sind im Spiegelbild nie dieselben. Ich akzeptiere das, und es ist kein Problem für mich. Es muss nicht alles eine abschließende Definition finden.
Belastend sind in diesem Zusammenhang gesellschaftliche Erwartungen, da dieses Offenlassen selten akzeptiert wird. Vielmehr gibt es da ein „Muss“. Ich möchte mich davon bewusst wegbewegen und sagen, es ist ok so.
Haben sich für Dich mit dem Gewinn des 46.Bachmannpreises 2022 auch die gesellschaftlichen Erwartungen verändert, vergrößert?
Grundsätzlich hat sich für mich sehr viel verändert. Ich war es gewohnt in Stille, ja, Einsamkeit, zu schreiben und dies war auch literarisches Thema.
Im Schreiben habe ich vorher nie an die Leser:innen gedacht, ich habe immer für mich selbst geschrieben. Ich habe auch nicht an Leser:innen geglaubt. Aber jetzt ist es Realität geworden, Leser:innen sind präsent. Ich weiß nicht, wie dies mein Schreiben weiter beeinflussen wird.

Ich habe auch nach dem Bachmannpreis gemerkt, dass Menschen von einer Künstlerin politisches Engagement erwarten. Bei den Themen wird einem nicht viel Auswahl gelassen, man wird da in Richtungen geleitet. Ich versuche Schubladisierungen zu vermeiden. Abstraktion, also Dinge auf das wesentliche reduzieren zu können, ist wichtig im Denken, aber es sollte mehr Schubladen geben, als es sie gibt, finde ich.
Jim Morrison, der Sänger der 1960/70er kalifornischen Rockband „The DOORS“, bezeichnete sich als „erotischen Politiker“ und wies damit auf Kunst in ihrem Weg des „Eros“ der umfassenden Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis hin. Siehst Du Kunst in diesem existentiellen Kontext?
Das hat Jim Morrison gesagt? (lacht).

Ja, es war in einem kurzgefassten Flughafen Interview.
Wir haben als Kind nur Jim Morrison gehört, weil mein Vater ein Fan war. Und ich konnte alle seine Texte auswendig, bevor ich Englisch sprechen konnte (lacht). Erst später habe ich dann gewisse Songpassagen besser verstanden. Etwa „rabid“ (Anm: tollwütig), das ich zunächst als rabbit (Anm: Hase) verstanden hatte (lacht).
Ja, alles was wir machen ist politisch. Die Welt färbt an uns ab und wir zeigen dies in jedem Wort, in unserer Kleidung, in allem zeigen wir diese Einflüsse.

Ich finde aber die persönliche Sicht auf ein Kunstwerk sehr wichtig. Der Autor sollte da nicht zu stark anleiten, in dem er vermittelt was er gemeint hat. Das ist falsch für einen Künstler.
Das Wichtigste in der Literatur ist, dass sie dem Leser die Gelegenheit bietet, in fremde Welten, Köpfe eintauchen zu können und dass dies unsere Empathie herausfordert und wir damit eine neue ethische Stufe erreichen, die wir nur mit mehr Empathie erreichen können.

Wie wichtig ist Dir als Schriftstellerin der Austausch mit weiteren Kunstrichtungen?
Ich glaube nicht an direkte künstlerische Einflüsse. Ich jedenfalls suche dies abzuwehren, weil ich nicht nachahmen will. Aber alles ist Teil der Welt, in der wir in jeder Sekunde einen neuen Abdruck bekommen. Wir werden permanent dadurch verändert. Alles verändert den Menschen. Wesentlich sind dabei die persönlichen Erfahrungen.
Man sollte nicht Kunstmachen, weil man gerne Künstler:in sein möchte. Es gilt etwas zu sagen zu haben, aus einem Bedürfnis heraus. Etwas das einen betrifft, belastet.

Existentielle Wahrnehmung und Veränderung sind Themen in Deinem Debütroman „Der Kreis des Weberknechts“ (Otto Müller Verlag, 2019) wie Deinem Bachmannpreistext 2022.
Ingeborg Bachmann formuliert in „Malina“, dass es unmöglich ist, „heute“ zu sagen, da es von „höchster Angst und fliegender Eile“ bestimmt ist.
Wie können Menschen mit diesen Prozessen, Anforderungen von Identität und Welt umgehen und zurechtkommen?
Wir haben als Menschen sehr viele Facetten. Ich glaube, dass es eine Identität nicht gibt und dass es irreführend ist, das ganze Leben lang mit dem gleichen Nomen/Namen beschrieben zu werden. Vielmehr gilt es mit und in dem Heute, Gestern, Morgen zu leben, zu leben versuchen. Es immer neu zu versuchen.

Der Roman „Malina“ wurde vor fünfzig Jahren geschrieben. Wie aktuell ist dieser?
Er ist zeitlos, trifft die Gegenwart.

Das erste Kapitel von „Malina“ ist betitelt „Glücklich mit Ivan“. Was bedeutet Dir Liebe?
Ich denke, es ist mit mir nicht so einfach in einer Beziehung und ich hatte so ein Glück meinen Mann kennengelernt zu haben. Er ist ganz anders als ich und er versteht mich trotzdem, das finde ich sehr bemerkenswert. Das ist sehr selten, glaube ich, und ich schätze das sehr.

In Deinem Roman „Der Kreis des Weberknechts“ kommt es ja zu keiner glücklichen Beziehung, vielmehr sind es „Netze“, die Karl und Mathilde narzisstisch auswerfen, um einander einzufangen, was nicht gelingt. Ist dies ein Spiegelbild unseres Liebesverständnisses in der Gesellschaft?
Grundsätzlich glaube ich, dass das Wort „Liebe“ die Komplexität ihrer selbst nicht umfasst. Wir bräuchten da viel, viel mehr Worte. Sich zu verlieben, finde ich, hat mit der Liebe wenig zu tun, und da finde ich das deutsche Wort dafür sehr gut; verliebt sein hat so wenig mit der Liebe zu tun wie z.B. „Laufen“ mit „sich verlaufen.“ Also ich glaube, dass Lipitsch eher verliebt ist. Er sollte mehr lieben.

In „Malina“ ist das letzte Kapitel „Von letzten Dingen“ betitelt. In Deinem Roman sind die Themen Vergänglichkeit, Sinn auch ein Thema. Welchen Zugang hast Du persönlich zu diesen „letzten Dingen“?
Menschen haben ein Bedürfnis nach Sinn in allem Chaos. Die Tatsache, dass wir sehr früh im Leben den Tod als unausweichliches Ende akzeptieren müssen, macht für mich vieles absurd. Ich denke auch, dass die Logik eine menschliche Erfindung ist und hat nichts mit dem Universum zu tun.
Das Verlangen nach einer kausalen Kette finde ich im Leben problematisch und auch im Erzählen. Ich denke, dass es falsch ist, nur mit Geschichten aufzuwachsen, in denen alles Sinn macht und wir dann glauben, alles verstehen zu können, zu müssen.

„Malina“ ist da eine sehr schöne Ausnahme (lacht).
Auch Grimms Märchen sind ok, da ist mir auch nicht alles klar. Ich weiß etwa nicht, warum die Prinzessin, die den Frosch misshandelt und gegen die Wand wirft, dafür mit einem Prinzen belohnt wird. (lacht).

Unsere Romane, Erzählungen heute machen alle mehr oder weniger Sinn. Diesen Sinn suchen wir dann überall im Leben und möchten Dinge verstehen, die man nicht verstehen kann.
Die Suche nach Sinn führt uns oft sehr weit weg von der Wahrheit, weil es letztendlich für uns schon genug ist, dass etwas plausibel klingt und dann glauben wir es. Wir sind da ganz leicht in die Irre zu führen.
Ich versuche in meinem Schreiben vom traditionellen Erzählen und deren Schemata wegzukommen. Eine Richtung ist da etwa das Fragment, das eher meinem Weltbild entspricht.
Im Roman „Der Kreis des Weberknechts“ habe ich bewusst versucht mit Erwartungen des Lesers zu spielen. Die Vorstellung von Mann und Frau zu Beginn des Romans erzeugt bereits eine Erwartung und diese wollte ich brechen. Denn im Leben ist es einfach nicht so, dass unsere Erwartungen erfüllt werden. Ich denke, es ist näher an der Wahrheit, wenn ich im Schreiben die Leser:innen enttäusche.

Dein Roman beginnt mit Gedanken an den Tod und endet mit dem Tod als erwartete Wiederkehr. Ist der Tod die einzige erfüllte Erwartung des Lebens?
Ja, wahrscheinlich.
Als ich sehr jung war und versuchte einen Sinn zu finden, was mir nicht gelungen ist, hat mich etwas getröstet, was mir ein Erwachsener sagte – dass der Tod Sinn mache, weil wir in einer Unsterblichkeit alles im Leben auf einen späteren Zeitpunkt verschieben würden (lacht). Das war ein guter Trost damals.
Das Leben muss keinen Sinn machen, es reicht, wenn es der Tod tut.

In Deinem Roman ist für Karl der Tod mit Wiederkehr, Rückkehr in die Kindheit, verbunden, also einer Wiedergeburt. Ist dies auch eine Utopie, Hoffnung für Dich?
Ich bin Agnostikerin und ich habe keine Ahnung was nach dem Tod passiert. Es sind aber Szenarien, was sein könnte, die mich beschäftigen und eine davon ist die Wiederkehr, die im Roman vorkommt, die ewige Wiederkehr des Gleichen. Ich bin da ursprünglich nicht von Nietzsche ausgegangen, aber kurz bevor mein Roman fertig war, habe ich zufällig „Also sprach Zarathustra“ (Friedrich Nietzsche, 1883, Anm.) gelesen und seine Idee entsprach 100% der meinen. Also fügte ich Nietzsche noch namentlich dazu.
Ich finde es witzig, dass wir alle ähnliche Ideen haben und diese dann benennen müssen mit den Namen großer Philosophen, die gestorben sind, obwohl diese Ideen eigentlich archetypisch sind.

In Deinem Bachmannpreistext sprichst Du auch das Thema Zeit und Leben an – „…ich weiß, die Zeit lässt sich nicht sparen, man kann sie nur verschwenden, im Sekundentakt.“ Welche Bedeutung hat Zeit für Dich?
Jede Sekunde nähern wir uns dem Tod.
Wir leben jetzt schon oft im Moment, glaube ich. Das soll man ja. Aber vielleicht gerade zu sehr. Wir leben in einer audio-visuellen Welt der Überreizung, die uns bzw. unser Gedächtnis gefährdet. Ich halte im Zusammenhang mit Zeit auch die Erinnerung für sehr wichtig.

Du hast in Deinem Bachmannpreistext den Rückzug, die Einsamkeit, in der Zeit der Pandemie beschrieben. Wie hast Du diese Zeit als Schriftstellerin erlebt?
Mein Buchprojekt über die Einsamkeit begann vor der Pandemie. Ich suchte dafür den Rückzug, um das Thema bearbeiten zu können. Und als ich damit fertig war, kam die Pandemie.
Das Schwierige in der Pandemie im Zusammenhang mit der Einsamkeit war, dass es keine Wahl mehr gab. Ich habe versucht, die positiven Seiten zu sehen und hatte große Hoffnung, dass wir sehr viel daraus lernen können, etwa über alternative Lebensweisen, darüber, dass wir unterscheiden, was wir brauchen und nicht brauchen in unserem Konsum. Auch bezüglich unserer Klimaverantwortung, dass uns bewusst wird, wir müssen nicht ständig herumreisen. Ich weiß nicht, haben wir etwas aus der Pandemie gelernt?

Ich habe auch geglaubt, dass es anders wird, wenn die Pandemie vorbei ist, ich weiß nicht, ob sie vorbei ist, ich dachte, wir würden entweder dann zurückgezogener leben oder dass eine „carpe diem“, Roaring Twenties (Anm: 1920er Jahre) mood ausbricht (lacht).
Die Pandemie war ein Einschnitt, weil es dem gesellschaftlichen Narrativ „Wir können tun was wir wollen. Wir können werden, wer wir wollen“ widersprach. Das erschütterte den modernen Menschen.

Dein Bachmannpreistext beginnt mit der Begegnung mit dem Briefträger. Dies ist auch im Roman „Malina“ ein wesentlicher Topos. Welche Rolle kommt diesem Boten, diesem Kontakt in der Einsamkeit zu? Ist dies metaphorisch mit einem Engel vergleichbar, der eine „befreiende, erlösende“ Botschaft in die Welt, meine einsame Welt, bringt?
Ich fand es spannend, dass die Person des Briefträgers, die ja nur die Funktion der Verbindung zwischen Absender und Empfänger hat und damit persönlich unwichtig ist, dann aber in der Einsamkeit für sie zur wichtigsten wird, weil sie im Unterschied zu den virtuellen Absendern, real ist.

Kommt diesem Kontakt des Überbringens, diesem kurzen persönlichen Austausch, auch ein wesentlicher Sinnbezug, Lebensimpuls zu?
Ihre Sinnsuche, dieses Bedürfnis nach Nähe, Überschreitung des Ich, die einfach menschlich und nicht anders als bei anderen ist, formt aus dem Briefträger etwas, das den Umständen geschuldet war. Sie hatte einen Kontakt und einen Sinn gesucht und dies auf den erstmöglichen oder ja auch den einzigen aufgehängt.

Die Begegnung mit dem Briefträger findet über das offene Fenster des Hauses statt. Es ist nur ein Teil ihres Körpers zu sehen. Ist dies auch metaphorisch zu verstehen als Bruchstückhaftigkeit der, jeder Begegnung?
Ich finde diese Sichtweise sehr, sehr schön. Es war da jetzt nicht meine direkte Schreibintention aber ich schätze es sehr, wenn ein Text hier weiterführt in Gedanken.

In Deinem Roman „Der Kreis des Weberknechts“ ist Karl ein Mensch, der die Bewunderung von außen braucht und in den Lebensmittelpunkt stellt. Er lässt eine persönliche Beziehung nicht zu. Ist er ein Prototyp des modernen Menschen?
Wir sind als Menschen leider oft individualistisch, narzisstisch. Unsere virtuelle Welt fordert dies auch, sich immer wieder selbst zu präsentieren. Es geht dabei nicht um ein persönliches Kennenlernen, sondern um ein in die Irre führen, einfach einander etwas vorzumachen. Wir gehen da in eine falsche Richtung.

Es gibt in sozialen Netzwerken auch ehrliche, offene posts. Aber überwiegend ist es nur eine „Maske“, an der man in der Einsamkeit arbeiten kann und dann setzt man diese virtuell auf.

Ich finde, wir müssten viel, viel mehr an unserer Empathie arbeiten und nicht an unseren Masken.

Wie kann diese Arbeit an der Empathie gelingen?
Ich hoffe durch die Literatur.
Und die Ehrlichkeit. Es ist gesellschaftlich so, dass man Fehler, handicaps, immer mehr akzeptiert, aber es sollte dann nicht so sein, dass man diese immer betont und als Identitätsmerkmal sieht. Der Mensch soll einfach in seiner Vielfältigkeit gesehen und akzeptiert werden.

Wir bekämpfen im Umgang miteinander Hass mit Hass und das finde ich sehr, sehr falsch. Wir sollten verstehen wollen, akzeptieren und mitfühlen.

Station bei Malina_Wien
Ende _ Sommerinterview Teil I, Teil II zwei folgt am 6.8.2022
Station bei Malina_ Sommerinterview: Ana Marwan, Schriftstellerin, Bachmannpreisträgerin 2022
Aktueller Roman: „Der Kreis des Weberknechts“ Ana Marwan, Otto Müller Verlag.
Interview_Walter Pobaschnig , Wien 7_22
Alle Fotos_Walter Pobaschnig _ Ungargasse_Wien.
Hervorragend, das ergibt einen ausführlichen und fundierten Einblick!
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Ein ausgezeichnetes interview mit interessanten Aussagen. Wer auch immer die Fotos machte – Gratulation – perfekt!
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