Lieber Matthias, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
In meiner westfälischen Kleinstadt und in meinem täglichen Leben als Hausmann und Vater hat sich wenig spürbar verändert. Ich bin immer noch derjenige, der die Tochter zur Schule bringt, den Haushalt macht, die Fragen der Krankenkasse beantwortet und die wechselnden Handwerker im Haus betreut. Wenn die Liebste nach 9 oder 10 harten Stunden im Sozialwesen-3 Jahre- Corona-Dauerstress nach Hause kommt, sind wir Familie und tun, was Familien tun.
In den unsichtbaren Fenstern dazwischen schreibe ich aus essentiellem Müssen heraus Gedichte und Romane. Ich weiß selber nicht, wann! Wie immer. Seit Februar lese ich dazwischen allerdings auch immer öfter besorgt die Nachrichten und frage mich immer öfter, ob Literatur und normales Familienleben noch selbstverständlich, überhaupt möglich oder adäquat sind. Aber das tue ich auch schon seit 3 Jahren, um genau zu sein- allerdings ist die aktuelle Sorge keine andere, sondern eine weitere.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Jetzt ist für uns alle wichtig, was es immer war- nur mit einer noch größeren Dringlichkeit: Mensch bleiben…oder besser: werden. Mitgefühl, Haltung, von mir aus auch Caritas oder Demut- alles mir unerklärlicherweise völlig unpopuläre Begriffe!
Es gab ja immer beides: Selbstherrlichkeit und Selbstlosigkeit- nur, dass das das Gleichgewicht, das meines Erachtens über die Jahre mal besser, mal schlechter funktioniert hat, momentan deutlich in die falsche Richtung auszuschlagen droht. Wir müssen kapieren, dass unser eigener Wohlstand, unsere eigenen Belange nicht der zentrale Kern des Universums ist und schon gar nicht zu verwechseln mit: Freiheit!

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Entscheidend wird sein, dass wir uns trauen und zumuten, uns zu interessieren. Uns mit schwierigen und verwirrenden Tatsachen zu konfrontieren. Desinteresse ist in meinen Augen die schlimmste Volkskrankheit- diese scheinbar abgebrühte Distanziertheit, als ob uns das alles nichts anginge.


Meinungen akzeptieren, die abweichen aber haltlosen Blödsinn beim Namen nennen- damit wäre schon viel erreicht. Kunst und Literatur kann dabei helfen, eigene Maßstäbe zu entwickeln, weil sie frei ist. Sie darf eine ganze Menge und wenn sie so gemacht ist, das sie sich weder dem halbreligiösen Unterhaltungsgebot unterwirft, noch so elitär, dass sie niemanden mehr erreicht, kann sie ein mächtiges Instrument sein- auch gegen Despoten!
Speziell die Lyrik sehe ich schon seit Langem als per se subversives Medium. Sie nimmt in keiner Weise am Geldkreislauf teil; sie produziert nichts, erwirtschaftet nichts und das Gedicht ist mit das einzige Kunstwerk, das eins zu eins aus dem Gedächtnis wieder – und weitergegeben und somit kaum zensiert oder verboten werden kann. Niemand kann einen Roman oder eine Oper oder ein Gemälde exakt einem anderen vermitteln, wenn das Buch, die CD oder eben das Bild nicht vorliegen- mit einem Gedicht ist das möglich! Deshalb fürchten viele Regime auch die Dichter so sehr. Sie und ihre Werke sind schlecht völlig mundtot zu machen – das sollte man doch nutzen!



Was liest Du derzeit?
Ich lese immer sehr viel parallel; manches aus beruflichen Gründen, anderes strikt privat. Neulich entdeckte ich die Gedichte Zbigniew Herberts neu und dachte: Wow- genau das war dieser Impuls, der dich vor 30 Jahren zum Schreiben brachte! Wenn Literatur, wenn Lyrik einen derart packen kann, dann besteht Hoffnung. Außerdem lese ich gerade eine bunte Mischung von Romanen, allerlei zeitgenössische Lyriker und wie immer eine Menge Essays zur Literatur- u.a. Anna Baars grandiose Rede zur Eröffnung des Bachmann-Preises.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Du schaust auf meine hände
Und sagst- sie sind schwach wie blumen
Du schaust auf meinen mund
zu klein um zu sagen: welt
Schaukeln wir lieber auf dem stengel der augenblicke
trinken wind
und sehen zu wie uns die augen versinken (Zbigniew Herbert)

Vielen Dank für das Interview lieber Matthias viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Matthias Engels, Schriftsteller
https://matthiasengels.jimdofree.com/
Zur Person: MATTHIAS ENGELS,
Autor, Referent & Herausgeber
geboren 1975 in Goch/Niederrhein, lebt seit 2001 in Steinfurt. Der gelernte Sortimentsbuchhändler veröffentlicht seit 2008 Romane und Lyrik in Einzel-publikationen sowie Zeitschriften, Magazinen und Anthologien. Zahlreiche Herausgeberschaften. 2020 und 2022 gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. 2020 und 2021 gefördert vom Literarischen Colloquium Berlin. Engels ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie der Gesellschaft für Literatur. Aufgenommen in Kürschners Literaturkalender.
Matthias Engels ist Autor zahlreicher Lyrikbände, zuletzt: Wir alle strahlen, (Edition offenes Feld 2020) und einiger Romane. Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun (stories&friends 2015) über einen wenig bekannten parallelen USA-Aufenthalt des irischen Dandys und des provokanten norwegischen Nebelpreisträgers war 2016 Kandidat für die Hotlist.
Zuletzt erschienen sind seine Version einer Liebesgeschichte: Bullerbü brennt (apebooks 2021) und sein biographischer Roman: Des Königs Kolumbus (Edition offenes Feld 2022) der den Lebensweg Franz Löhers, einer vergessenen westfälischen Geistesgröße, nachzeichnet, der es als Metzgerssohn schließlich an den Hof Ludwig II. von Bayern schafft und von diesem mit einer geheimen Mission beauftragt wird.
BLOG: http://dingfest.wordpress.com/
FACEBOOK: https://www.facebook.com/readingmonkey
LITERATURPORT: https://www.literaturport.de/Matthias.Engels/
Herausgeber Literaturmagazin: Die sentimentale Eiche
https://sentimentaleeiche.wixsite.com/website
Fotos_Portrats: Rainer Nix;
11.7.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.