Lieber Stefan, Du hast vor 27 Jahren, mit 27 Jahren, den 19. Bachmannpreis 1995 in Klagenfurt gewonnen. Welche Bedeutung hatte dies damals für Dich und welche Erinnerungen hast Du heute daran?
Ich habe starke Erinnerungen daran. Es war ein prägender Moment, der für mich viel verändert und Türen geöffnet hat. Ich war auch noch nie so aufgeregt vor einer Lesung.
Nach Klagenfurt bin ich als weitgehend unbekannter Autor gefahren. Bis dahin hatte ich bei zwei kleineren Verlagen Veröffentlichungen. Mein erstes größeres Buch wurde im Klagenfurter Ritterverlag publiziert und das hatte bis zum Bachmannpreis eine Verkaufszahl von 42 Stück. Nach dem Bachmannpreis stieg dann der Absatz auf mehrere tausend.
Der Bachmannpreis war der Leg-Opener. Insofern gibt es sehr viele Eindrücke aus dieser Zeit.

Bachmannpreisträger 1995
Wie kam es damals zu Deiner Bewerbung für die Teilnahme am Bachmannpreis?
Ich habe mich nicht beworben. Das konnte man auch nicht, denke ich. Mich hat damals Ferdinand Schmatz (Schriftsteller, 1995/96 Juror beim Bachmannpreis, Anm.) gefragt, ob ich nach Klagenfurt fahren will.
Es war damals unter Autoren umstritten, ob man überhaupt am Bachmannpreis teilnehmen oder diesen aufgrund des medialen Eventcharakters boykottieren soll.
Ich dachte mir, man bekommt da fürs Lesen zehntausend Schilling, da ist der Urlaub schon mal finanziert (lacht) und man kann nicht wirklich was verlieren. Daher hat sich für mich die Frage nicht groß gestellt, ob ich hinfahren soll oder nicht.

Was waren Deine Überlegungen für den Klagenfurt-Text?
Ich wollte mit meinem Text, den ich extra für den Wettbewerb geschrieben habe, schon zeigen, was ich kann. Es war ein Text für Klagenfurt, kein Romanauszug.
Beim Text selbst war mir wichtig, dass er beim Lesen, sein Sprachrhythmus, funktioniert.
Ein Text hat bei mir immer mehrere Phasen. Die Erstfassung für Klagenfurt war ziemlich schlecht und der einladende Juror Ferdinand Schmatz sagte, dass ich noch viel daran arbeiten müsste. Dann gab ich ihm irgendwann die Endfassung und wir haben uns zum Gespräch getroffen. Schmatz hatte ja zunächst mehrere Kandidaten in der Auswahl und war sich nicht sicher, ob er mich nehmen soll. Bei dem Gespräch über den Text sagte er dann: „Ich glaub´, Du kannst des gwinnan.“ Und ich dachte: „Der spinnt“ (lacht).

Der Hauptpreis war für mich völlig undenkbar. Ich dachte, wenn es ganz gut läuft, bekomme ich vielleicht ein 3sat Stipendium, das war der letztgereihte Preis. Aber den Bachmannpreis zu gewinnen, war nicht in meiner Vorstellungswelt. Es war ja auch so, dass immer Autoren gewonnen haben, die große Verlage hinter sich hatten.
1995 waren es auch noch 22 oder 24 Autoren, die gelesen haben, also viel mehr als heute (2022 sind es vierzehn Auror:innen, fünf Frauen und neun Männer; Anm).
Ja, und ich „hab` dann den Schas gwunnan“ (lacht).

Gab es vor Deiner Live-Lesung bestimmte Vorbereitungen?
Nein, ich habe drei Bier getrunken, weil ich so nervös war. Ich hab` das aber rausgeschwitzt. Meinen einladenden Juror habe ich dies vor der Lesung erzählt und der sagte: „Du spinnst, da wirst ja nicht mehr lesen können“ (lacht). Aber die Nervosität war so riesig, dass der Alkohol sofort weg war.

Wie hast Du den Bachmannpreis als literarischen Treffpunkt erlebt?
Für mich waren es lauter berühmte Menschen, die da herumspaziert sind. Gert Jonke (*1946 +2009; erster Bachmannpreisträger 1977) ist in der ORF Kantine gesessen, Robert Schindel war dort, der Suhrkamp Lektor wurde mir vorgestellt. Da war schon das Bild, da konzentriert sich die Literaturwelt. Und alles im gemütlichen Klagenfurter Ambiente. Abends sind die Leute mit dem Radl zum Wörthersee gefahren, es war sehr glücklich.

Aber im ORF Zentrum bei den Lesungen hatte ich das Gefühl, hier wird gerichtet. Es gab auch die Angst, dass man von der Jury hingerichtet wird (1995 waren es elf Jurymitglieder:innen, Anm.). Das wurde ich jetzt nicht, aber die Angst, dass man komplett versagt, war da, weil man das im Regelfall nicht gewöhnt ist, dass eine Kamera auf einen gerichtet ist. Angst, dass die Stimme komplett versagt oder man kollabiert. Was ja nie passiert ist, aber ich konnte mir alles vorstellen.
Angespannt vor der Lesung war ich nur bezüglich der Leseperformance. Was die Jury sagen würde, war mir völlig wurscht.

Wann hast Du gelesen?
Die Lesereihefolge ist ja nicht unentscheidend. Das ist wahrscheinlich auch heute noch so, aber damals noch mehr, weil es ja so viele Lesende gab. Ich war am Freitag Nachmittag dran, so zwischen 15h und 17h, was ich mich erinnere. Es war die letzte Lesung des Tages. Das haben erstens sehr viele Zuschauer im Fernsehen gesehen und viele sprechen mich heute noch darauf an – „I bin hamkuman und hob den Fernseher aufdraht und do worst du und host glesn und dos wor a Wahnsinn“ (lacht). Das habe ich oft gehört.

Mein Lesungstermin war zeitnah zur Jurysitzung, was auch ein Vorteil war. Bis zum damaligen Zeitpunkt haben die mit Nummer eins nie etwas gewonnen.
Es war eine gute Stimmung unter uns Lesenden. Die Gundi Feyrer (Schriftstellerin, Bildende Künstlerin, Bachmannpreisteilnehmerin 1995, Anm.) etwa, die meine Nachbarin im Hotel war, und die ich sehr schätze, ist am Sonntag zur Preisverleihung gar nicht hingegangen, weil sie sagte, dies ist völlig wurscht und sie hat das dann total verpennt (lacht), auch weil wir am Abend davor ziemlich gefeiert haben. Sie hat das 3sat-Stipendium gekriegt und musste erst aus dem Hotel geholt werden.

Gab es auch ein Rahmenprogramm für Euch Lesende und wie ging es dann nach der Preisverleihung für Dich weiter?
Es gab während der Lesungstage ein Fußballspiel, aber da hat mich niemand gefragt, ob ich mitspielen will.
Als Bachmannpreisträger wurde ich dann vom Bürgermeister (Leopold Guggenberger, von 1973-1997 Bürgermeister von Klagenfurt, Anm.) zum Essen eingeladen. Was auch eigenartig war, weil man ist ja plötzlich nicht mehr der Mensch sondern der Preisträger, und der Bürgermeister weiß auch nicht, was er mit Dir reden soll (lacht).
Ich habe dann gemerkt, oder am Anfang nicht gemerkt, dass die Menschen nur den Bachmannpreisträger feiern. Man ist der Preisträger und wird als Sau durchs Dorf getrieben, durch das literarische Dorf. Aber gut, dass kriegt man irgendwann auch mit (lacht).

Ich habe das Preisgeld (Bachmannpreis 1995 _200 000 Schilling; 2022 _25 000 EUR, Anm.) bekommen, bin damit nach Wien gefahren und dachte, super, jetzt muss ich ein Jahr nicht arbeiten und kann auf Urlaub fahren. Ich bin zu meiner Wohnung gegangen und habe bereits im Gang das Telefon gehört (lacht). Ich bin dann zehn Tage lang nicht mehr davon weggekommen.
Dazu völlig überfüllte Briefkästen. Einerseits Briefe von Menschen, denen ich irgendwann über den Weg gelaufen bin, von Schul-, bis Kindergartenkollegen, alle haben sich da gemeldet, bis hin zu Stalkerinnen, die mir Bilder oder Telegramme geschickt haben.
Wenn ich in der Früh in Wien Hernals einkaufen ging, und dachte, da wird mich schon keiner kennen, wurde ich auf der Straße angesprochen – „Jeh, du host den Bachmannpreis gwunnan“ – es waren immer positive Kommentare. Aber wenn du verschlafen Semmeln kaufen gehst, ist das ungewohnt (lacht). Das war damals eine neue Erfahrung. Mittlerweile kenne ich das, wenn mich Leute anschauen.

Wie gingst Du mit dieser plötzlichen Veränderung des bisher gewohnten privaten wie literarischen Lebens um?
Wenn ich nicht etwas eitel wäre und dies nicht auch genießen könnte, hätte ich mich zurückziehen ziehen und den vorherigen Zustand annehmen können. Das haben viele Preisträger getan. Die haben den Preis genommen und sind abgetaucht. Bei manchen weiß man gar nicht ob sie noch schreiben.
Bei mir war das Leben ein Gang mit vielen verschlossenen Türen und mit der Preisverleihung Sonntag-Mittag sind dann viele Türen aufgegangen. Ich bin neugierig und bin durch viele Türen durchgegangen.

Es hat sich vieles erleichtert. Theater sind auf mich zugekommen und sagten „schreib` uns ein Stück“. Bis dahin hatte ich ja kein Stück geschrieben.
Hans Gratzer, der damalige Chef vom Schauspielhaus Wien, rief vom Urlaub in Mallorca aus in Wien an „treibst mir den auf, der muss mir ein Stück schreiben“ (lacht). Solches wird einem dann ermöglicht und da ist der Preis sehr hilfreich.
Wie gingst Du mit dieser so herausfordernden alltäglichen Bewältigung von Post, Telefonaten, Organisation, Terminen nach dem Bachmannpreisgewinn um?
Wenn so eine Veränderung passiert, weiß man, dass man funktionieren muss. Es war aber nicht das Gefühl, dass ich besonders glücklich dabei wäre.

Briefkasten ging ja, das war schnell sortiert. Es gab damals kein Internet, kein Handy und der Anrufbeantworter war immer voll. Die Anfragen reichten von Interviews bis zu absurdesten Dingen, etwa die Zifferblattgestaltung einer Uhr (lacht).
Ein bisschen etwas macht man, aber irgendwann denkt man sich, jetzt reicht es. Nach ein paar Wochen sagte ich, so, jetzt ist es genug, ich fahre nach Italien. Einfach um wieder Ruhe zu haben und schreiben zu können.

Wie leicht, schwierig war es dann für Dich den eigenen literarischen Weg weiterzugehen? Gab es da auch Richtungsvorgaben von außen?
Nein, die gab es nicht. Für mich war die Grundsatzentscheidung zu treffen ob ich in dem Stil des Klagenfurt Siegertextes „Krautflut“ 40 Jahre weiterschreiben will, oder auch neue Sachen ausprobiere und dabei ein mögliches Scheitern zulassen will.
Man merkt dann relativ schnell, so ein Preis macht den ersten Satz auch nicht besser. Man fängt immer wieder bei Null an und muss mit jedem Text kämpfen.

Es ist schön für das Schreiben, dass es eine Auszeichnung gegeben hat, aber es gibt auch die Gefahr, die Selbstkritik zu verlieren. „Der bekannte Bachmannpreisträger, das muss gut sein, was der schreibt“ – aber die Selbstzweifel sind mir doch geblieben.
Du hast 1995 mit Deinem Siegertext „Krautflut“ virtuos sprachlich begeistert und bis heute überrascht, faszinierst Du mit wunderbar spannenden, witzigen, hintergründigen, so vielseitigen Projekten in Buch und auf der Bühne. Was inspiriert Dich?
Gute Frage (lacht).
Es ist die Neugierde und die Lust am Schreiben. Und auch das Spüren einer Notwendigkeit.


Es gab aber auch Jahre, wo ich schrieb, weil ich wusste, ich muss Geld verdienen für die Familie, die Kinder. Da waren Aufträge und die habe ich abgearbeitet. Schon auch mit Freude und Lust. Eine Mühsal war mir das Schreiben nie. Aber die Unbedingtheit war auch nicht immer da.
Jetzt habe ich wieder das Gefühl bei manchen Stoffen, das muss geschrieben werden. Das muss ich jetzt schreiben. Da ist ein innerer Drang. Ein Drang, die Welt vielleicht ein bisschen besser zu machen. Alles andere ergibt sich dann von selbst.
Was möchtest Du den Lesenden in Klagenfurt mitgeben?
Da fallen mir nur blöde Trainersprüche ein: cool bleiben. Genießt das Spiel.
Vielen herzlichen Dank für das Interview, lieber Stefan, viel Freude mit dem diesjährigen Bachmannpreis und eine wunderschöne Sommerzeit!
Viel Freude und Erfolg für alle Projekte!

Bachmannpreisträger 1995
Bachmannpreis 2022 _ im Rückblick _Interview:
Franzobel, Schriftsteller, Bachmannpreisträger 1995 _ Wien
https://www.hanser-literaturverlage.de/autor/franzobel/
Alle Fotos_Walter Pobaschnig _ Riesenrad/Prater Wien _ Mai 2022.
Walter Pobaschnig 6_22