Liebe Josefine, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Ich spiele momentan im Stück „Trümmerherz“ von Bernhard Bilek (Regie: Martina Gredler) im Werk X Petersplatz_Wien. Das Stück erzählt eine weibliche Coming-of-Age Geschichte eines Boogie-Woogie begeisterten Wiener Mädels aus einer matriarchalischen Arbeiter*innen Familie vor dem Hintergrund der österreichischen Nachkriegszeit der 1950er Jahre. Ich spiele die wundervolle Rolle der ältesten Schwester Mitzi, die sich von Erinnerungen, Kriegstraumata und dem Gefühl der Verantwortung für ihre Familie befreien möchte. Sie heiratet einen amerikanischen Besatzungssoldaten, um die Trümmer von Wien hinter sich zu lassen. Über Johnny, den Besatzungssoldaten, wird im Stück zwar gesprochen, jedoch ist er kein einziges Mal selbst zu sehen. Ein besonders schöner Schachzug des Autors Bernhard Bilek – trotz der teils dramatisch komplexen Geschichte der Charaktere gelingt es ihm die Integrität jeder Rolle zu wahren und achtsam mit jeder Passivität/Aktivität umzugehen.
An Vorstellungsterminen versuche ich meinen Tagesablauf so konzentriert und ungestresst wie möglich zu halten – es fühlt sich fast wie Luxus an, nach so einer langen Theaterpause wieder spielen zu dürfen, also genieße ich jeden Moment. Den Weg ins Theater, das gemeinsame Aufwärmen mit meinen grandiosen Kolleg*innen, das Umziehen in der stickigen Garderobe, das Warten auf den Einsatz, das Schwitzen unter den Scheinwerfen und den gemeinsamen Schlussapplaus. Nun, da die Spielserie langsam aber sicher zu Ende geht, liegt über all dem wieder die altbekannte Frage nach dem „Und jetzt?“, Gedanken an die unbekannte Zukunft. Nach einem chaotischen Umzug während der Pandemie von London, wo ich vier Jahre gelebt und gearbeitet habe, wieder zurück nach Wien, und den langen Phasen des Lockdowns und der Re- Orientierung, habe ich meine Stabilität als Künstlerin noch nicht so ganz gefunden. Falls sich die Worte „Stabilität“ und „Künstlerin“ nicht eh widersprechen.
Trotzdem versuche ich dem Bedürfnis panisch um Mitternacht Bewerbungen zu verschicken standzuhalten und genieße nach den Vorstellungen stattdessen die Tatsache, dass der Aperol Prosecco hier zumindest besser schmeckt und weniger kostet als in meiner Wahlheimat London.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Wahrscheinlich die Dinge, die im Eifer des Gefechts von „höher, schneller, weiter“ immer ins Hintertreffen geraten. Die Dinge für die „keine Zeit mehr ist“, die man „irgendwann nächste Woche“ machen will, der Mensch der gesagt hat „ich meld` mich dann“, die Nachricht auf die man nicht geantwortet hat, das „wie geht’s dir eigentlich“, die offenen Augen, das gemeinsame Schweigen, den Gedanken nachhängen, keine Pläne zu haben, ausschlafen und lange Nächte.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu?
Ich persönlich fühle mich in Zeiten der Pandemie, des Kriegs, der politischen Missstände eher darauf hingewiesen, dass wir eben nicht alle im selben Boot sitzen. Ich glaube kaum mehr an einen gemeinsamen Aufbruch und Neubeginn für alle – ein Neubeginn braucht Zeit, finanzielle Ressourcen, eine zweite Chance, die nicht jedem vergönnt ist. Unsere turbulenten Zeiten haben die sozialen Ungleichheiten zwischen uns vergrößert, haben uns verängstigt, radikalisiert. Es gibt, wie immer, die Gewinner und die Verlierer dieser turbulenten Zeiten.
Als Kunstschaffende befindet man sich oft in der seltsamen Position Teil von Institutionen zu sein, die politisch stark beeinflusst werden, und gleichzeitig ebendiese politischen und gesellschaftlichen Ströme und Trends in einer Theater- oder Filmproduktion zu kritisieren. Man befindet sich oft in einer Abhängigkeit, in einem Widerspruch in sich. Kämpft für eine Diversität auf der Bühne oder im Film, die im Ensemble oder in der Besetzung selbst nicht verkörpert wird. Zeigt soziale Missstände auf, während in derselben Produktion noch mit dem Gender Pay Gap gekämpft wird.
Der Position des Theaters/ Schauspiels, der Kunst, stehe ich also zwiegespalten gegenüber. Auch ich spüre den Trend zur Offenheit, zur Diversität und zum Neubeginn, und sehe viele Veränderungen zum Positiven. Nur fühlt sich diese Reise hier in Österreich oft noch unendlich langsam und beschwerlich an.
Was liest Du derzeit?
„Angst“ , ein Essay der Kriegs- und Krisenreporterin Petra Ramsauer.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Es mit der Angst aufzunehmen, bedeutet erst einmal, von ihr zu wissen. Sich ihr ruhig und ausgeschlafen zu stellen. Sie als Teil unseres Lebens zu akzeptieren.“
Petra Ramsauer
Vielen Dank für das Interview liebe Josefine, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Theater-, Schauspielprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Josefine Reich, Schauspielerin
Aktuelle Produktion:
Trümmerherz
Foto_Volker Schmidt
18.5.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.