„Ich glaube, dass wir innehalten müssen“ Johanna Beisteiner, klassische Gitarristin und Sängerin _ Wien 16.4.2022

Liebe Johanna, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich habe mir einen strengen Arbeitsplan auferlegt, um das von mir entwickelte solistische Aufführungskonzept, in dem ich virtuoses Instrumentalspiel auf der Gitarre mit klassischem Gesang, Flamenco-Tanz und Sprechen verbinde, erfüllen zu können. Feinmotorik, Stimme und Körper müssen genau aufeinander abgestimmt werden. Am Vormittag stehen meistens zwei bis drei Stunden technische Übungen auf dem Plan, nachmittags und Abends widme ich mich dem Werkstudium und Tanzen. Dazwischen benötige ich natürlich mehrere Pausen, um mich physisch und mental nicht zu überlasten. Phasenweise arbeite ich an eigenen Arrangements und kommuniziere mit Veranstaltern.

Wahrscheinlich fragt man sich, warum ich mir eine derartige Rosskur antue und nicht einfach beim Repertoire für klassische Gitarre bleibe. Einerseits möchte ich eine im 20. Jahrhundert weitgehend verloren gegangene Aufführungspraxis wiederbeleben: die eigenständige Instrumentalbegleitung während eines mit Belcanto-Technik vorgetragenen Kunstliedes, eine Praxis, die wir nur mehr aus Werken der bildenden Kunst und historischen Aufzeichnungen kennen. Zum anderen erweitert diese Kombination von Techniken die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und eröffnet somit neue Perspektiven in der Gestaltung von Soloprogrammen. Ich kann nun ein Rezital nicht nur unter ein bestimmtes Thema zu setzen, sondern auch im Rahmen eines durchgehenden Handlungsablaufes präsentieren. Vom Publikum erhalte ich dafür viele positive Reaktionen, die mich bestärken, dieses innovative Konzept weiterzuentwickeln.

Johanna Beisteiner, klassische Gitarristin und Sängerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Wir leben in einer Zeit gesellschaftlicher Spaltung, die sich Tag für Tag vertieft. Ich glaube, dass wir innehalten müssen, um uns zu fragen, wie es dazu gekommen ist, und wie wir diese negative Entwicklung umkehren können. Es findet ein enormer globaler Umbruch statt, der nicht nur von Digitalisierung und Klimawandel geprägt ist. Ich habe den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft das Gefühl für sozialen Zusammenhalt, Freiheit, Demokratie und gesunder Alltagskultur zunehmend schwindet. Die immer derbere Umgangskultur fängt bei dem in jüngerer Zeit salonfähig gemachten Gruß mittels Faust- und Ellbogentechnik an und zieht sich in gesteigerter Form durch Bereiche, die unser aller Grund- und Freiheitsrechte betreffen. Politische oder wirtschaftliche Ziele, die nicht mittels Verordnung durchgebracht werden können, werden zunehmend durch Drohungen zu erreichen versucht. Wir alle sollten uns Gedanken darüber machen, ob solche Drohungen das gesunde Zusammenleben der Menschen fördern oder diesem vielmehr schaden. Warum greift man überhaupt zu derart aggressiven rhetorischen Mitteln? Gibt es einen Mangel an aus Vernunft erwachsenen Argumenten, um angestrebte Ziele durchzusetzen?

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Musik, der Kunst an sich zu?

Im Zusammenhang mit Aufbruch erinnere ich mich an eine der prägendsten Erfahrungen meiner frühen Jugend. Im Alter von etwa dreizehn Jahren ist mein Gitarrenspiel soweit entwickelt gewesen, dass mein Umfeld begonnen hat, mir dabei gebannt zuzuhören, und diese Konzentration auf den Klang der Musik hat die Atmosphäre in einem Raum verändert. Menschen unterschiedlichen Alters, denen man davor eine gewisse Unausgeglichenheit oder Nervosität angemerkt hat, sind beim Zuhören ruhiger und entspannter geworden, haben vielleicht auch zu klareren Gedanken gefunden. Ich habe die Musik nicht nur aus persönlicher Leidenschaft zu meinem Beruf gemacht, sondern ebenso aus dem Bewusstsein heraus, mit ihr etwas bewirken zu können. Für einen gelungenen gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Aufbruch braucht man sowohl mentale Kraft als auch Besonnenheit. Ich bin überzeugt, dass die positive Wirkung, die Musik und Kultur auf unseren Gemüts- und Geisteszustand ausüben können, eine äußerst wichtige Rolle in unserem Leben spielen wird, um die nötigen Grundlagen zum Erreichen von innerer Balance zu schaffen. Nur so können wir die Herausforderungen des bevorstehenden Aufbruchs meistern.

Was liest Du derzeit?

Ich lese Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“. Der Autor fasziniert mich mit seinem scharfen Blick, mit dem er verschiedene Ereignissen der Geschichte durchleuchtet. Ebenso frage ich mich bei dieser Lektüre, wie unser Umgang mit den Herausforderungen der Gegenwart aus dem Blickwinkel künftiger Generationen bewertet werden wird.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ein Zitat aus Zweigs Vorwort zum eben genannten Buch erscheint mir treffend: „Kein Künstler ist während der ganzen vierundzwanzig Stunden seines täglichen Tages ununterbrochen Künstler; alles Wesentliche, alles Dauernde, das ihm gelingt, geschieht immer nur in den wenigen und seltenen Augenblicken der Inspiration. So ist auch die Geschichte, in der wir die größte Dichterin und Darstellerin aller Zeiten bewundern, keineswegs unablässig Schöpferin. …. Immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen, ehe eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit in Erscheinung tritt.“

Johanna Beisteiner, klassische Gitarristin und Sängerin

Vielen Dank für das Interview liebe Johanna, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Musikprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an Künstler*innen:

Johanna Beisteiner, klassische Gitarristin und Sängerin

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Fotos_privat.

28.10.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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