Liebe Katharina, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Mein Tagesablauf hat sich vor allem dahingehend geändert, dass ich nicht mehr so viel persönlichen Kontakt mit Autor*innen und ganz generell mit Menschen habe. Ich arbeite in einem Verlag, und mittlerweile bin ich auch wieder die meiste Zeit im Büro. Aber: Die Reisen, um sich mit potentiellen Autor*innen usw. zu treffen, gehen erst langsam wieder los. Vieles fand in den letzten eineinhalb Jahren online statt. Auch das klappt. Trotzdem ist es schön, sich zu sehen und kennenzulernen. Ansonsten: schreibe ich abends, das ist auch nach wie vor so. Nur: Mir fehlt der menschliche Kontakt. Schreiben an sich hat zwar immer etwas Einsames, aber ich brauche den Austausch, die Nähe, Erlebnisse, Gespräche, Gerüche, Gefühle von anderen, die sich in meine eigenen mischen. Ich bin keine Autorin, die zwei Monate in einer Holzhütte sitzen könnte. Und ich spüre, gerade jetzt, da sich alles wieder öffnet, wie sehr mir das gefehlt hat.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ich denke, dafür gibt es keine pauschale Antwort. Wir sind verschieden. Eine Gesellschaft ist nie homogen. Was vielen Menschen in privilegierten Situationen abhandengekommen ist, ist die Sicherheit. Der Glaube daran, dass schon alles gut wird. Leute, die nicht so privilegiert sind, kennen dieses Gefühl. Deshalb empfinde ich das Gerede über Solidarität oft als anmaßend. Natürlich braucht es Solidarität. Aber es macht eben einen Unterschied, ob ich in meiner Wohnung mit Garten in Innsbruck sitze – oder ob eine Familie mit wenig Geld auf wenigen Quadratmetern eingesperrt wird. Deshalb macht es auch einen Unterschied, von wem wir diese Solidarität einfordern. Dieses „Wir sitzen alle in einem Boot“ ist dermaßen lächerlich, dass ich oft kaum glauben kann, dass manche Menschen wirklich dieser Ansicht sind. Jedenfalls: werden wir alle erst herausfinden, was für uns wichtig ist. Ich könnte jetzt sagen: ein Systemwechsel. Aber das scheint zu weit weg von der Realität. Trotzdem denke ich: Wir brauchen menschliche Politik. Und mit menschlich meine ich: wirklich nahe am Menschen. Nicht nur nahe an denen, denen es bereits gut geht.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Für mich ganz wesentlich ist Empathie. Das Aushalten von Ambivalenzen in Menschen. Darüber habe ich in letzter Zeit viel nachgedacht. Was braucht es, um empathisch sein zu können? Fähigkeiten? Bereitschaft? Wieso ist es für manche so schwierig, andere Positionen, Diskriminierung und Marginalisierung anzuerkennen? Gefühle sind immer valide. Mir ist bewusst, dass das Hineinfühlen in andere Menschen oft nicht nur schwierig, sondern auch anstrengend ist. Aber es ist etwas, was uns ausmacht, in gewisser Weise. Und ja, Empathie braucht es auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene.
Ich glaube nicht, dass es absehbar ist, was diese Krisenzeit wirklich für Folgen nach sich ziehen wird. Das war und ist eine Erschütterung auf allen Ebenen. Individuell bedeutet das auch, dass Menschen unterschiedlich darauf reagieren werden. Das sollten wir akzeptieren. Unsere eigenen Ansprüche nicht immer auf andere projizieren. Ich glaube, das ist wichtig. Und ich würde mir wünschen, dass diese Zeit wirklich einen Umbruch auslöst. Die Krise hat auf vieles ein sehr eindeutiges Licht geworfen. Und es wäre schön, würden wir das nutzen, um grundlegende Veränderungen loszutreten.
Literatur (und Kunst im Allgemeinen) wird dabei dieselbe Rolle zukommen, die sie schon immer innehatte – meiner Meinung nach. Gesellschaftliche Änderungen zeigen sich in kreativen Tätigkeiten, Prozessen, Werken. Deshalb ist es auch so essentiell, dass sich der Kunst- und Literaturbetrieb endlich öffnet (noch weitaus mehr als bisher). Dass wir verschiedene Perspektiven, Blickwinkel, Positionen abbilden. Literatur kann antreiben, aber vor allem kann man in ihr sehen, was in Menschen passiert, welche Veränderungen stattfinden. Literatur und Kunst sind immer auch politisch, egal in welcher Form. Wir müssen nur hinschauen. Deshalb bin ich unglaublich wütend über manche Feuilleton-Diskussionen zu Büchern, die als Identitätskitsch abgetan werden. Wie kann sich ein Kritiker so etwas herausnehmen? Fehlender Weitblick? Fehlende Empathie, vielleicht. Deshalb wieder zum Anfang: Wir brauchen Empathie auf allen Ebenen.
Was liest Du derzeit?
Gerade beendet habe ich „Lust“ von Elfriede Jelinek. Ich habe es geliebt, aber ich glaube, man könnte es noch zehnmal lesen und immer etwas Neues darin entdecken. Außerdem habe ich „Kink“ von den Herausgeber*innen R.O. Kwon und Garth Greenwell angefangen: Kurzgeschichten von mehreren Autor*innen, u.a. Roxane Gay, Kim Fu usw., in denen es um Liebe, Sex, Fetische geht. Das musste ich allerdings kurz zur Seite legen, da ich von Angela Lehner ihren neuen Roman „2001“ zugeschickt bekommen habe. Und ich freue mich sehr darauf, weil Angela Lehner, wie ich finde, eine der besten österreichischen Schriftstellerinnen ist. Und ansonsten stehen sowieso immer einige Manuskripte an.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ich habe mich für eine Gedichtzeile von May Ayim entschieden. Es ist eine Zeile aus zeitenwechsel (aus: weitergehen, orlanda verlag), und ich glaube, sie passt wunderbar als Abschluss dieses Interviews:
um mitternacht
bröckelte hagel
aus den wolken herab
zerplatzte meine einsamkeitsstille
das echo klang bis zu dir
Vielen Dank für das Interview liebe Katharina, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Katharina Schaller, Schriftstellerin
Katharina Schaller – Haymon Verlag : Haymon Verlag
Foto_(c) emanuel aeneas photography
26.7.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.