Liebe Barbara, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Jetzt im Winter ist viel Ruhe eingekehrt. Ich stehe auf und warte darauf, dass es ein bisschen hell wird, dann geht es immer erstmal raus an die Luft. Meine Hündin ist stets mit dabei und erinnert mich daran, auch mal innezuhalten, einen besonderen Geruch zu genießen oder mir ein einzelnes, frostgezeichnetes Blatt ganz genau anzusehen. Morgens, wenn mein Kopf noch frisch ist, ist dann auch die beste Schreibzeit. Später kommen all die Pflichten. Termine, Haushalt, Arbeit und Bewerbungen schreiben. Jeden Tag ein bisschen anders, nie ganz planbar im Moment. Deshalb halte ich so gern an morgendlichen und abendlichen Routinen fest. Wenn es dunkel wird, mache ich mir drinnen kleine Lichter an. Dann wird Tagebuch geschrieben, reflektiert. Mit einer Tasse Tee gelesen und der nächste Tag geplant. Der sieht wieder anders aus, aber behält seinen Rahmen, der mich hält und mir trotzdem viel kreativen Freiraum lässt.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
In einem Wort: Freundschaft. Für mich das Antonym von Spaltung. Wir merken in den kalten Monaten des schwindenden Lichts, wenn es immer weiter auf das Jahresende zugeht, dass wir dazu durchaus in der Lage sind, freundschaftlich zu sein. Es braucht nicht vielmehr als einen kleinen Anreiz von außen, und wir schieben die zur Gewohnheit gewordene Feindseligkeit zur Seite, machen eine Ausnahme. Dabei sollte und müsste Freundlichkeit keine Ausnahme sein. Spaltung, Feindseligkeit, Neid und Ausgrenzung können nur in sich zusammenfallen, wenn wir diesen mit Integration, Freundlichkeit und Freundschaftlichkeit begegnen. Nicht nur zu Weihnachten.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich habe mich wissenschaftlich viel damit auseinandergesetzt, welches Verhältnis die Kunst zur Wirklichkeit hat und glaube, dass es gerade dieses komplexe und teils paradoxe Verhältnis ist, das dafür sorgt, dass es Kunst zu jeder Zeit gegeben hat und geben wird. Es ist toll zu sehen, dass Kunst und Literatur immer breitere Zielgruppen erreichen, obwohl mit Kürzungen von Förderungen und Geldern von staatlicher Seite aus so sehr dagegen gearbeitet wird. Obwohl noch ein langer Weg vor ihr liegt, wird die Literatur immer inklusiver und diverser in vielerlei Hinsicht. Ihre Stärke liegt gerade darin, zwischen den Zeilen zu uns zu sprechen und auf eine Art und Weise Realität zu vermitteln, wie es faktische und wissenschaftliche Texte nicht können. Ich glaube, das Wesentliche an der Literatur ist ihre Schönheit, und die Kehrseite, ihre Hässlichkeit. Dabei meine ich die beiden Begriffe nicht auf- oder abwertend, sondern als zwei Seiten einer Medaille. Sprachkunst ist in der Lage, unser ästhetisches Empfinden anzusprechen und zu befriedigen, unsere Gedanken zu beflügeln und uns eine Zeitlang alles Harte, Raue, Laute, Schlimme vergessen zu machen. Das ist wichtig, um die Hoffnung und die eigene Menschlichkeit zu behalten. Und andererseits gibt es Literatur, die genau dafür da ist, uns das Hässliche, Unfertige, Zerstörerische, Schmerzhafte vorzuführen, uns im Tiefsten zu erschüttern. Das ist wichtig, um nicht träge und gleichgültig zu werden. Es braucht beides, es braucht die vielen, vielen Erzählstimmen und Perspektiven.
Was liest Du derzeit?
Als Vorbereitung auf ein Seminar lese ich gerade ‚Mary & Claire‘ von Markus Orths. Das Buch selbst ist eine Liebeserklärung an die Literatur, das Schreiben und die Sprache selbst. Es geht um eine ganz ungewöhnliche und besondere Beziehung zwischen der berühmten Mary Shelley, ihrer Schwester Claire und dem Autor Percy Shelley. Es geht aber auch um die Liebe zum Leben und den Umgang mit dem Tod. Ich finde es toll, wie die Gedanken- und Sprachwelten der Figuren lebendig werden, wie die realen Persönlichkeiten als Figuren rekonstruiert werden allein aus dem, was sie der Nachwelt in Sprache als Brief, Tagebucheintrag, Erzählung oder Notiz hinterlassen haben und bewundere die feine und sorgfältige Recherche, die man aus jedem einzelnen Kapitel herauslesen kann.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ein Zitat aus einem meiner liebsten Bücher von einem der talentiertesten und inspirierendsten Schriftsteller der Gegenwart:
“You once told me that the human eye is god’s loneliest creation. How so much of the world passes through the pupil and still it holds nothing. The eye, alone in its socket, doesn’t even know there’s another one, just like it, an inch away, just as hungry, as empty.” – Ocean Vuong: On Earth We’re Briefly Gorgeous
Vielen Dank für das Interview, liebe Barbara viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Barbara Thiel, Schriftstellerin
Zur Person/über mich: Barbara Thiel, geboren 1997 in Bad Honnef, studierte in Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus und ist inzwischen an den Rhein zurückgekehrt, um ihren Master in Theorien und Praktiken professionellen Schreibens zu machen. Viel lieber als an der Masterarbeit schreibt sie jedoch an Kurzgeschichten und ihrem ersten Romanprojekt.
2023 gewann sie den Wilhelm-Fabry-Förderpreis. Ihre Texte sind in diversen Magazinen und Anthologien veröffentlicht, u.a. in kaffeeundkippen oder der Anthologie Bonner Bogen. Weitere Veröffentlichungen sind geplant. Sie lebt und schreibt in Wachtberg.
Kommende Termine:
Lesung bei der new.lit in der Buchhandlung Manulit am 15.01.2026 in Köln
Lesung aus der Anthologie ‚Bonner Bogen‘ am 05.03.2026 in der Dollendorfer Bücherstube Königswinter
Fotos: privat
28.12.2025_Interview_Walter Pobaschnig