„Nicht aufzuhören, zu fühlen, während man denkt“ Mizgîn Bîlmen, Regisseurin _ Duisburg 22.10.2025

Liebe Mizgîn, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Wenn ich ehrlich bin – mein Tagesablauf hat sich nicht verändert. Warum auch? Es hat sich ja für uns, hier im warmen Zentrum Europas – für uns, die noch verdienen, die noch arbeiten, die noch Geld bekommen am Ende des Monats – hat sich nichts verändert. Wir gehören immer noch zu denen, die funktionieren dürfen. Verdienstfähig, wie man so schön sagt. Aber für all jene, die vom Jobcenter leben – unterschiedlichste Menschengruppen –  müssen nun jeden Monat bangen, ob sie die Miete noch schaffen, ob die Wohnung bleibt. Für diese Menschen hat und kann sich sehr schnell viel, ja alles verändern.

Ich stehe also auf, ´trinke meinen Kaffee, lese Nachrichten über Krisen, die immer woanders stattfinden – und manchmal, wenn ich ehrlich bin, auch hier, direkt nebenan, aber unsichtbar.

Dann gehe ich wieder ans Arbeiten, als wäre das alles nur Material und nicht real. Das ist ja das eigentlich Erschreckende: Dass man weitermacht, obwohl alles brennt. Die Katastrophe ist ja längst da, nur die Normalität hat sich besser organisiert.

Jetzt gerade schreie ich laut aus: WACH DOCH ENDLICH AUF! DAS IST DOCH KEIN TAGESABLAUF, DAS IST BETÄUBUNG!

Und ja – vielleicht ist das mein Tagesablauf: ein gutgeöltes System der Betäubung.

Mizgîn Bîlmen, Regisseurin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Was jetzt wichtig ist, ist das, was uns noch weh tut. Alles andere ist schon verkauft. 

Was jetzt wichtig ist?

Dass wir uns erinnern, wer wir waren, bevor man uns erklärte, wer wir zu sein haben.

Wichtig ist, dass Sprache nicht verstummt, auch wenn sie keine Nation hat. Dass Frauen, die Grenzen tragen, sie nicht mehr stillschweigend auf dem Rücken tragen.

Wichtig ist, nicht mehr nur zu überleben, sondern die Form des Überlebens verändern.

Wichtig ist, die Lüge des Friedens zu erkennen, der auf der Angst der Anderen gebaut ist.

Wichtig ist, die Zukunft nicht den Algorithmen zu überlassen, die Krieg neutralisieren, bis keiner mehr merkt, dass er stattfindet.

Wichtig ist, Widerspruch.

Wichtig ist, dass wir einander nicht vergessen, auch wenn die Welt schneller spricht, als wir denken können.

Und dass wir, wenn das Wort „Mensch“ wieder hohl klingt, neu anfangen zu sprechen – auf gebrochenem Atem.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/ Schauspiel, der Kunst an sich zu?

Ich stehe vor einem Aufbruch.

Aber das Gelände ist vermint mit Erinnerung.

Jede Generation glaubt, sie sei die erste, die aufbricht. Dabei tritt sie nur in die Fußspuren derer, die verschwunden sind, ohne angekommen zu sein.

Ich trage die Geschichten meiner Mütter in der Stimme, und die Nachrichten der Welt in den Augen.

Die Welt ändert die Kostüme, nicht die Gewalt.

Wer neu anfängt, muss zuerst wissen, woher das Vergessen kommt.

Ich spreche langsam, damit der Schmerz denken kann.

Ich spreche jetzt, bevor sie mir das Mikrofon nehmen!

Ich spreche.

Ich stolpere.

Ich lebe zwischen Zitat und Schrei.

Der Neubeginn wird kein Fest sein.

Er wird ein Riss sin, durch den wir endlich atmen.

Das Theater –  nicht mehr Bühne, sondern OP-Saal der Gegenwart 

Die Kunst –  nicht mehr Schmuck, sondern Sauerstoff, wenn der Rest der Welt die Luft an sich reißt. 

Kunst wird die Muttersprache des Zweifels sein.

Ohne sie – kein Aufbruch, nur ein Umzug ins nächste Schweigen.

Vielleicht beginnt alles erst, wenn die, die keine Heimat haben, anfangen, die Bühne als Territorium zu besetzen. 

Was liest Du derzeit?

Ich lese im Moment… hm, ich bewege mich lesend, eher taumelnd, zwischen Wagner und Novalis – also irgendwo zwischen Romantik und Faschismus. Das ist Teil meiner Recherchearbeit für das Theater in Zwickau. Ich versuche zu verstehen, wie diese deutsche Romantik, dieses große, sehnsüchtige, schöne Gift, sich so einfach in den nationalen Wahn eingeschrieben hat.

Wie aus der blauen Blume irgendwann der braune Sumpf wurde.

Die Figur Schuhmann wird dabei der rote Faden meines ganzen Unterfangens sein: seine künstlerische Schaffensperiode, sein musikalisches Denken, seine Beziehung zu Clara und seine Krankheit.

Er ist der Fixpunkt, an dem sich Sehnsucht, Genie, Wahnsinn und gesellschaftliche Strukturen treffen. Ich lese also nicht nur Texte, ich lese Abgründe. Ich lese, was passiert, wenn Sehnsucht und Macht sich verbünden und Verantwortung mit Macht verwechselt wird.

Ich lese Wagner und plötzlich merke ich: der Satz atmet noch in uns.                      Ich lese Novalis und zwischen Zeilen beginnt etwas zu marschieren.

Ich blicke also auf die unerlöste Vergangenheit Deutschlands und schreie dabei immer wieder lauthals auf, lache und blute dabei. Ich erkenne diese unerlöste Sehnsucht im Heute und versuche dabei einfach nicht wegzusehen.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Vielleicht ist das alles,

was jetzt wesentlich ist:

Nicht aufzuhören, zu fühlen,

während man denkt.

Und nicht aufzuhören, zu denken,

während man brennt

Vielen Dank für das Interview, liebe Mizgîn, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theaterprojekte und persönlich alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen: Mizgîn Bîlmen, Regisseurin

Zur Person/über mich:  Mizgîn Bîlmen wurde 1983 in Duisburg geboren und wuchs dort auf. Nach einem einjährigen Aufenthalt am Berliner Maxim Gorki Theater und einem weiteren Jahr am Schauspiel Frankfurt, wo sie drei Inszenierungen realisierte, kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück und lebt bis heute dort.

2016 realisierte sie ihre erste Oper, eine deutsche Erstaufführung mit dem Titel Charlotte Salomon, die sich intensiv mit dem Werk und der gleichnamigen jüdischen Künstlerin auseinandersetzte. In der Sprechrolle wurde die fabelhafte Jana Schulz besetzt. Die Inszenierung war ein voller Erfolg und war regelmäßig ausverkauft, was ihr
den renommierten Götz-Friedrich-Preis einbrachte. Seitdem arbeitet sie als Regisseurin landauf landab im deutschsprachigem Raum, immer auf der Suche nach den verborgenen Verbindungen zwischen Musik, Literatur, Bewegung und gesellschaftlicher Realität. Ihre Arbeit erforscht die Spannungen zwischen ästhetischem Genie und menschlicher Zerbrechlichkeit. Zwischen Macht und Verantwortung. Inspiriert von
Figuren, die emotional, intellektuell und politisch zugleich sind – kraftvoll manchmal
verstörend, immer nachdrücklich.

Die kommende Inszenierung wird in Zwickau realisiert.

Fotos: Charlie Casanova.

Walter Pobaschnig 21/10/25

https://literaturoutdoors.com

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