Liebe Marion Kecht, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Mein Tag beginnt meist gegen acht Uhr. Während mein Frühstück – eine Grapefruit, ein Ei, etwas Müsli und Vollkornbrot – auf mich wartet, mache ich ein paar sanfte Gymnastikübungen, ohne Zwang, einfach um den Körper zu wecken. Schwarzer Kaffee gehört unbedingt dazu. Nach einem Bad und ein paar Telefonaten widme ich mich meinen Lektoratsaufgaben, die ich derzeit freiberuflich erledige. Oft zieht es mich auch hinaus: in Vorlesungen an der Uni, auf Spaziergänge im Regen – der für meinen Geschmack zu selten fällt in Wien – oder ins Kunsthistorische Museum. Dort finde ich jene Stille, die in einer Großstadt so dringend nötig ist. Vor den Gemälden von Pieter Bruegel dem Älteren kann ich verweilen, als wäre die Zeit einen Augenblick lang aufgehoben.
Abends widme ich mich meinem Privatleben: Ich ziehe mich schön an, treffe Freunde, gehe ins Theater oder in den Musikverein. Klassische Musik, aber auch Jazz, sind sehr wichtig für mich; in meiner Altbauwohnung läuft fast immer etwas im Hintergrund. Besonders dann, wenn ich zuhause bleibe, sind die Abendstunden meine Zeit zum Schreiben – ich denke dann über Gedichte nach, feile an Bildern und lasse die Worte kommen, versuche durch sie hindurch zu gehen, bis sich der Tag langsam senkt.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Immer wieder habe ich über diese Frage nachgedacht: Wer ist dieses ‚Wir‘ überhaupt – und existiert es wirklich? Ich denke, was es nun am dringendsten braucht, ist die Fähigkeit, sich wieder zu erinnern, was uns im Kern menschlich macht: Zuhören, Geduld, Sanftheit im Umgang miteinander. Wir sollten lernen, nicht sofort Antworten parat zu haben, sondern Stille auszuhalten und sie zu teilen. Aufbrüche beginnen oft im Kleinen – in einem Blick, einer ausgestreckten Hand, in der Offenheit, jemanden wirklich zu sehen. Und gerade darin liegt auch etwas Mächtiges: nicht in lauten Parolen, sondern in der leisen Bereitschaft, Verantwortung füreinander zu tragen. Es ist mir ein Anliegen, dass wir alle das Staunen und die Unschuld wiederfinden- eine Art unverstellter Kinderblick – über die Welt, die Kunst, über die Schönheit, die uns umgibt. Denn nur wer noch staunen kann, kann auch hoffen, oder? Obwohl ich zugeben muss: Es ist oft nicht leicht, bei Verstand zu bleiben.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt da der Literatur, der Kunst an sich zu?
Vor einem Aufbruch und Neubeginn stehen wir nicht nur mit aufgefächerten Händen, sondern oftmals mit zu vielen ausgeleierten Worten, die ihre Kraft verloren haben. Wesentlich wird sein, dass wir die Fähigkeit zurückgewinnen, Widerspruch auszuhalten – den der anderen sowie den eigenen. Wir müssen uns selbst irritieren, unsere Bequemlichkeit aufrühren, die alltägliche Schwere durchbrechen. Literatur und Kunst sind dabei kein dekoratives Beiwerk. Sie sind scharf und gefährlich wie Elektrizität, und gleichzeitig weicher Sand, der sich auf die Seele legt. Sie zwingen uns, auf uns selbst zu schauen, auf die Ecken, die wir meiden, auf das Unausgesprochene, das uns so oft lähmt. In Zeiten des Aufbruchs werden sie zu unruhigen Flüssen, die uns reflektieren und zugleich fortspülen, so dass wir uns kurzzeitig neu erfinden können – stärker, verletzlicher, wacher. Wer glaubt, Kunst sei nur schön, verkennt ihre Kraft. Sie ist zugleich Warnung und Versprechen, manchmal schmerzlich, manchmal tröstlich. Ohne sie bleibt der Aufbruch an der Oberfläche. Erst durch sie lernen wir, dass Neubeginn immer auch das zarte Ringen mit unserer eigenen Unvollkommenheit ist – und genau darin liegt seine Energie.
Was liest Du derzeit?
Momentan lese ich Gedichte von geschätzten Kollegen wie Boris Greff und Marcus Roloff. Außerdem tauche ich ein in Anne Carsons „Der bittersüße Eros“, verliere mich in Robert Services „The Shooting of Dan McGrew“ und beschäftige mich mit der Abhandlung „Vom Erhabenen’ von Pseudo-Longinus. Ich lese meist mehrere Dinge gleichzeitig.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Von William Faulkner:
„Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.“
Vielen Dank für das Interview, liebe Marion Margarethe Kecht, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Marion Margarethe Kecht, Dichterin
Zur Person/über mich: Marion Margarethe Kecht (*1984/Bad Reichenhall) lebt als freischaffende Lyrikerin und Lektorin in Wien.
Veröffentlichungen u.a. in „Die Brache“, „Mosaik“ , „Poesiegalerie“ und „Signaturen-Magazin“. Ihr Debüt VAKUUM ist bislang noch unveröffentlicht.
Foto: Portrait_ privat
Walter Pobaschnig 22/8/25