Lieber Wolfgang Scherreiks, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Ich stehe um fünf oder sechs Uhr auf, frühstücke und setzte mich an meinen neuen Roman. Leider muss ich mich früher oder später meinem Brotjob widmen. Dazwischen gehe ich fast täglich ins Fitnessstudio. Je länger du geistig arbeitest, desto mehr bis du gezwungen, Sport zu treiben. Außerdem bin ich noch der Einkäufer und häufig der Koch der Familie. Beides durchaus erotische Angelegenheiten. Das Lesen kommt später oder in den Abendstunden. Wenn wir nicht gerade auf die anderen großen Epen hereinfallen, die Netflix-Serien. Immerhin, auch die können Arbeitsimpulse für den nächsten Tag bieten.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ein „wir“ ist doch immer etwas vermessen. Wer bin ich, einem anderen zu sagen, was wichtig für ihn ist? Schon länger übe ich mich in Bescheidenheit und Dankbarkeit bezüglich meiner persönlichen Lage. Ich beschäftige mich weniger mit dem, was Besseres gewesen sein könnte, was gegenwärtig alles fehlt, was eines fernen Tages einmal Tolles sein wird. Das ist mir wichtig. Gelingt natürlich nicht immer. Macht aber halbwegs glücklich.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Wieder kann ich nur für mich sprechen. Und da sehe ich mich eher einer stoischen Kontinuität verpflichtet. Ein neuer Roman kommt nur in die Welt, indem ich mich jeden Tag an den Schreibtisch setze. Come rain, come shine. Gegen das innere Schreibverbot und ein „Das funktioniert nicht!“ von außen.
Wesentlich für die Kunst scheint mir, das universell zutiefst Menschliche nicht einer engen, selektiven Weltsicht zu opfern. Je nach Lager zu idealisieren oder pauschalisieren. Gute Literatur ist unabhängig von Moden, irritiert gängige Perspektiven oder die Setzungen vorgeblicher Alternativlosigkeit. Außerdem glaube ich nicht, dass sich an den großen Topoi jemals etwas ändern wird: Liebe, Tod, Trauer, Reise oder Verwandlung. Egal wer oder wo du bist. Das wird immer neu aus einer intimen Geschichte und – eingestanden oder geleugnet – dem kulturellen Erbe heraus, in Kunst übersetzt. Dafür muss eine Form gefunden oder variiert werden. Wenn ich überhaupt einen Wunsch freihätte an einige Literaturmoden, würde ich es so sagen: Weniger Apokalypsen, mehr Apfelbäume pflanzen.
Was liest Du derzeit?
Seit Jahren besteht mein Lesen aus Anfang, Abbruch und Wiederaufnahme von Lektüren. Bestimmt von aktueller Arbeit, dem Handapparat, wenn man so will, aber auch auch vom Wetter, der Tages- und Jahreszeit. Derzeit liegen auf meinem Lesestapel: Rüdiger Zills Hans Blumenberg-Biographie, Susan Bernovskys Robert Walser-Biographie, „Die Günderode“ von Bettina von Arnim, Kants „Kritik der Urteilskraft“, „The Weird Tales“ von Dorothy K. Haynes und obenauf Ocean Vuongs neuer Roman „Der Kaiser der Freude“.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Weil wieder der selbst erklärte »Realist« sein durchaus mächtiges Unwesen treibt, hätte ich noch ein Textschnipsel von Marcus Steinweg anzubieten: »Fantasie. Man soll sich nicht einbilden, keiner Einbildung zu erliegen. Lacans Psychoanalyse kreist um die Einbildungskraft als dem Vermögen, Unmögliches zu imaginieren, was so viel heißt, wie es möglich zu machen unter der Voraussetzung, es nicht in Mögliches zu transsubstanziieren. So tricky ist die Situation! Idioten schwelgen nicht in Fantasien. Idiot ist, wer sich Realitäten opfert, deren Fantasiewert er ignoriert.«
Vielen Dank für das Interview, lieber Wolfgang, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Wolfgang Scherreiks, Schriftsteller
Zur Person/über mich: Seit seiner Kindheit liest sich Wolfgang Scherreiks durch die Weltliteratur und verfasst bald eigene literarische Kurztexte und Romane. Zunächst ausdrücklich für die Schublade. Nach gelegentlichen Beiträgen für Literaturzeitschriften (u. a. Torso Literaturpreis 2010), Reise-Essays, Journalisten-Stipendium der Post AG 2012 und zuletzt Nature-Writing-Workshop der Stiftung Kunst & Natur x Matthes & Seitz 2021 schreibt er, ausgestattet mit dem Stipendium Neustart Kultur, den ›Goldberg‹-Roman in einem Seehaus in der Uckermark. Aktuell ist ein neuer Roman in Vorbereitung. Der in Bremen geborene Schriftsteller lebt seit 1987 in seiner Wahlheimat Berlin-Schöneberg.
Im Verlag kul-ja! publishing erscheint demnächst:
GOLDBERG (Roman, 2026) https://scherreiks.net
Foto: privat
Walter Pobaschnig 11/8/25