„Zuhören. Dem Wind. Dem Regen. Der Angst. Den Fragen.“ Julia Antonia, Künstlerin _ Berlin 4.7.2025

Liebe Julia Antonia, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich habe gerade eine Kündigung wegen Eigenbedarf für meine Berliner Wohnung erhalten sowie eine Mieterhöhung für mein Atelier. Dadurch wird einiges in Bewegung kommen. Nicht, dass ich nicht genug Bewegung hätte im Alltags-Triathlon von Kind, Job und Kunst – Der Tag startet mit einer VordemWeckerklingeltonaufwachenchallenge  so gegen 5:30 Uhr, abends schlafe ich meist unfreiwillig vor dem zu Bett gehen ein, irgendwo über einem Text, einer Zeichnung, den Füßen meiner Tochter, die um ein Schlaflied oder so gebeten hatte. Dazwischen liegt ein Tag oft ohne Verschnaufpause, dafür mit  Glück atmen, zB. wenn das Kind das gekochte Essen nicht verschmäht, die Ämter nochmals Aufschub gewähren, der wilde Wein hinter dem Fenster morgens das Licht in grünes Leuchten bricht, wenn sich ein Spalt zur Unsterblichkeit öffnet, da mein vor einem Jahr verstorbener engster Freund  an seinem Geburtstag posthum ein erstes Buch in seinem Verlag veröffentlicht.

Dazu gibt es Augenblicke, in denen ich abtauche in eine parallele Dimension, die eine dehnbare Zeit in sich trägt, dort ist es ganz still, ich höre Gespräche und Geräusche aus der Erinnnerung der Dinge, die ich finde in den Kartons aus dem Nachlass meines Freundes, die ich  sortiere, nach und nach, weil ich davon nicht so viel auf einmal verkrafte und es mir auch zu schade wäre, sein Leben nur oberflächlich durchzusehen.

Leider dehnt sich meine Alltagszeit nicht mit, so dass einige Aufgaben liegen bleiben oder mit einem Lidschlag die halbe Nacht um ist.

Julia Antonia, Künstlerin
und chetan akhil
/Manfred Nehls, Schriftsteller +2024

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Zuhören.

Den Familienältesten.

Den Kindern.

Den Erinnerungen und Lebensgeschichten.

Den eigenen und denen der anderen.

Zuhören.

Dem Wind.

Dem Regen.

Der Angst.

Den Fragen.

Der inneren Melodie.

Zuhören.

Dem Meer.

Dem Tier.

Der Wut.

Der Gefahr.

Dem Baum

Dem Glück.

Dem Schrei.

Zuhören.

Der Liebe.

Der Trauer.

Dem Mut.

Dem Käfer.

Der Stille.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?

Diese Wachstumseuphorie des Menschen und ein fehlinterpretiertes „sich die Erde untertan machen“ sind gefährlich angesichts unserer globalen Situation. Es kann nicht darum gehen, dass wir immer mehr und mehr besitzen und produzieren.

Anstatt “höher, schneller, weiter, größer, mehr ” sollte  “achtsamer, klüger  liebevoller, weiser, echter”  der Motor für unser Handeln sein. Nicht das auffälligste, raumgreifendste schaffen  sondern das wirkliche, dringende, drängende, berührende aus innerer Notwendigkeit heraus.

Und somit lebendig und unikat zu werden anstatt perfekt und uniform.

Dabei helfen uns die Künste. Sie erschaffen Räume, in denen wir uns selbst,  einander und der Welt  begegnen und unser Mensch-Sein ein Stück weit begreifen können, über den Tod hinaus über Generationen und Epochen hinweg. Die Künste sollten daher in Zukunft elnen höheren gesellschaftlichen Stellenwert einnehmen.

(Eine etwas naive Randbemerkung:

Man stelle sich vor, Herrschende der Länder, die kurz vor einem militärischen Konflikt stehen,  müssten vor ihren brisanten Verhandlungen zunächst ein Musikstück miteinander einstudieren. Dabei einander zuhören, gemeinsam im Takt spielen, harmonische Spannung und Schönheit im Zusammenspiel erfahren. Könnte das nicht einiges verändern?

Was liest Du derzeit?

Zur Zeit lese (und empfehle)  ich Bücher von dem tollen Verlag kul-ja! publishing: die WOMAN-Trilogie von Julia Kulewatz, “Entstellung des Gesichts. Eine Verirrung“ von Willi van Hengel und bis das Buch aus der Druckerei kommt lese ich immer wieder in dem Manuskript zur “Prenzlauerbergpredigt” von chetan akhil.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Aus “Prenzlauerbergpredigt” von chetan akhil

KLAPPENTEXT

LEBEN – müder Gassenhauer

lasch und ohne Stil.

Das Plagiat liegt auf der Lauer

noch im ehrlichsten Gefühl.

Selbst wie man sterben möchte,

ist schon mal gestorben worden.

Längst vergeben alle Rechte

auf Liebenleidendichtenmorden.

Vielen Dank für das Interview, liebe Julia Antonia, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen: Julia Antonia, Künstlerin

Zur Person/über mich: Julia Antonia, geboren in Berlin, studierte Kunstgeschichte, Philosophie, Bühnenbild, freie Malerei sowie experimentelle Violine. Im Jahr 2000 erhielt sie den Meisterschüler der UdK Berlin für Bildende Kunst. In ihrer Abschlussarbeit kombinierte sie einen ihr vom Himmel gefallenen Schwan mit deckenhohen schwungvollen Zeichnungen, intimen Tagebuchskizzen sowie einer Improvisation, die das Herabstürzen des Schwanes in Klänge fasste.

Zu der Zeit ihrer Prüfungsarbeit zog sie als Untermieterin bei dem Dichter Manfred Nehls (chetan akhil) in seine Charlottenburger Altbauwohnung in die Kantstr. Aus den alltäglichen Begegnungen wuchs ein poetischer Austausch über Literatur und Bildkunst, es entstanden gemeinsame Projekte mit  Zeichnungen und Gedichten,  Lesungen mit Musik sowie eine enge Freundschaft und Liebe. 

Diese Verbindung hielt bis zu dem Tod des Dichters im April 2024 an. Sie setzt sich posthum fort in der aktuellen Buchveröffentlichung „Prenzlauerbergpredigt“ bei kul-ja! publishing mit 99 Texten des Autors, sowie neben Fotos von Rainer M.Schulz einigen Zeichnungen der Künstlerin aus der gemeinsamen Zeit.

Während des Lebens mit chetan akhil entwickelte Julia Antonia  Blindportraits, eine Serie von Bildern zu deren Anfang ein intensives Betrachten des Gegenübers steht, worauf eine Blind-Zeichnung mit geschlossenen Augen folgt.  Das so entstandene Gesicht überrascht mit einem nicht korrigierten Eigenleben. Einige Zeichnungen erhalten eine monochrom changierende Farbigkeit, einen Farbklang ausgelöst durch das portraitierte Gegenüber.

Mit diesen Arbeiten von Julia Antonia und einem philosophischen Katalog-Text von chetan akhil wurden beide Künstler 2005 zu einer internationalen Ausstellung nach Süd-Korea eingeladen. Die gemeinsame Reise hinterließ einen tiefen Eindruck und beeinflusste ihr weiteres Schaffen.

Die Aussage „Literatur ist eine Fortführung des Traumes“ wäre laut Julia Antonia auch für die Bildende Kunst oder die Musik treffend. „Alle Künste sind Teil einer großen poetischen Sprache und können darin miteinander kommunizieren. Unerklärliches muss sich nicht erklären, es darf anregen, Fragen aufwerfen. Die Antworten liegen vielleicht Zeitmeilen entfernt in Zukunft oder Vergangenheit oder der inneren Zeit des Schlafes und weiterer Träume.“

Foto: Rainer M.Schulz

Walter Pobaschnig 27/6/25

https://literaturoutdoors.com

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