Liebe Pegah Ahmadi, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Das Leben verläuft wie zuvor – eine Mischung aus beruflicher Tätigkeit und alltäglichen Routinen einerseits und dem Versuch, dieser Monotonie Sinn oder neue Impulse zu geben andererseits. Seit einiger Zeit schreibe ich weniger, lese jedoch mehr. Kürzlich habe ich eine weiterführende Fortbildung im Bereich Übersetzung abgeschlossen. Abgesehen davon geht es mir gesundheitlich nun viel besser, nachdem ich mehrere Jahre an einer schweren Atemwegserkrankung gelitten und eine lange Behandlungsphase durchlaufen habe. Daher schätze ich heute jeden einzelnen Atemzug bewusst und mit Dankbarkeit. Ich versuche einfach, tiefer und bewusster zu atmen und empfinde inzwischen sicherlich mehr innere Ruhe und eine gewisse Leichtigkeit im Leben. Lass mich sagen: Ich strebe nicht mehr krampfhaft nach irgendetwas – und ich habe es nicht eilig. Die wirklich wichtigen Dinge sind oft jene, die im Alltäglichen verborgen bleiben, fast zu leise, um bemerkt zu werden.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Aus der Perspektive von „uns“, die wir in einer zunehmend komplexen und isolierenden Welt leben, fällt es mir nicht leicht, eine klare Antwort zu geben. Ich denke jedoch, dass in einer Welt, in der Künstliche Intelligenz essenzielle Entscheidungen trifft und manchmal sogar an unserer Stelle denkt, ja sogar Bücher schreibt und zum Verkauf vorbereitet, es besonders wichtig ist, nicht zuzulassen, dass die Technologie uns in Gleichgültigkeit und Entfremdung führt. Wir leben in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Mensch und Maschine zunehmend verschwimmen. Ich befürchte, dass wir unsere eigenen menschlichen Qualitäten wie Empathie, Liebe, Zusammenhalt, Kreativität und kritisches Denken allmählich verlieren, ohne es wirklich zu merken. Ebenso genau auch in der sozialen Dimension brauchen wir vor allem mehr Verbundenheit, gesellschaftlichen Zusammenhalt, tiefere Empathie und ein echtes gegenseitiges Verständnis – nicht nur rhetorisch, sondern auch in der Praxis spürbar.
Es wäre hilfreich, wenn wir alle – trotz unterschiedlicher Erfahrungen und Perspektiven – versuchen würden, den Fokus nicht ausschließlich auf uns selbst zu legen, sondern aktiv daran zu arbeiten, das Gemeinsame zu fördern.
Letztlich leben wir alle in einem Netzwerk von gegenseitigen Einflüssen – sozial, politisch und kulturell. Dieses Bewusstsein kann uns helfen, verantwortungsvoller und mit mehr Verständnis füreinander zu handeln.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Literatur und Kunst können mehrdimensionale Ausdrucksräume erschaffen, in denen alles hinterfragt, bezweifelt und neu überdacht wird. Schreiben ist dabei nicht nur ein Denkprozess, sondern auch eine Formung des Denkens, die sich auf bewusster und unbewusster Ebene stets gegenüber dem, was geschieht, positioniert und neu orientiert. Daher ist es vielleicht notwendig, sensibler und wachsamer gegenüber den Vorgängen hier und anderswo in der Welt zu sein, denn gerade diese Aufmerksamkeit schafft die Grundlage, um neue Denk- und Ausdrucksformen zu entwickeln.
Literatur und Kunst entfalten ihr Potenzial oft in vertrauten gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen. Zugleich eröffnen sie die Möglichkeit, über diese gewohnten Rahmen hinauszugehen und neue, vielfältige Ausdrucks- und Denkweisen zu entdecken.
Was liest Du derzeit?
Zurzeit lese ich den Gedichtband „Das Alphabet von Deleuze & Guattari“ von Stefan Heyer, der in diesem Jahr beim Passagen Verlag erschienen ist.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Leider fiel das Ende dieses Gesprächs mit dem Angriff Israels auf mein Heimatland, den Iran zusammen. Also möchte ich ohne weitere Worte oder Parolen einen Teil meines heutigen Telefongesprächs mit meinem Vater zitieren:
„Papa, wie geht es dir? Bitte fahr in den Norden, dort ist es sicherer!
Hab keine Angst, meine Liebste, jene fahren in den Norden, die das Leben zu ernst genommen haben“.
Vielen Dank für das Interview, liebe Pegah, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Pegah Ahmadi, Schriftstellerin
Zur Person: Pegah Ahmadi, 1974 im Iran geboren, hat persische Sprach- und Literaturwissenschaft studiert und ist Lyrikerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. Sie ist Mitglied des iranischen Schriftstellerverbands, zählt zu den bekanntesten Gesichtern der iranischen Lyrikszene und hat bisher zehn Bücher veröffentlicht.
Auf Einladung von ICORN kam Pegah Ahmadi 2009 nach Frankfurt, wo sie erstmals zensurfrei schreiben und leben konnte. Unter dem Eindruck des Sommers 2009 entstand ihr Gedichtband Mir war nicht kalt (Sardam Nabud), der im Bremer Sujet Verlag erst auf Farsi und dann auf Deutsch erschienen ist.
Im Anschluss an ihren Aufenthalt in Frankfurt war sie ein Jahr Gastpoetin an der Brown University in Providence, Rhode Island.
Ahmadi war 2009 für den vom Verband iranischer Presserezensenten ausgeschriebenen Preis für das beste lyrische Werk und 2013 für den Heidelberger Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil nominiert. Im selben Jahr erhielt sie in Iran den Chorschid-Preis für iranische Lyrikerinnen. Pegah Ahmadi lebt zurzeit in Köln.
https://sujetverlag.de/bio-pegah-ahmadi/
Aktueller Gedichtband von Pegah Ahmadi:

Pegah Ahmadi – Das war also die Zukunft. Edition H.Schroeder
15,50 €
https://www.editionhschroeder.de/shop/drama-and-lyrik/pegah-ahmadi—das-war-also-die-zukunft/
Foto: privat
Walter Pobaschnig 13/6/25