Station bei Milena _ „voller Leben, voller Fantasie, Lust und utopischem Bewusstsein“ Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin _ Leipzig 15.4.2025

Station bei Milena Jesenska  und Franz Kafka _

Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin,
Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin

„Briefe an Milena“ Franz Kafka. Erstveröffentlichung 1952.

Fotos _ am Wohnort Milena Jesenskas in Wien.

Milena Jesenska verband eine kurze intensive Liebesbeziehung mit Franz Kafka, die in Briefen Kafkas dokumentiert ist. Sie verbrachten im Sommer 1920 vier gemeinsame Tage in Wien.

Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin,
Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin
Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin,
Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin
Milena Jesenská (10.August 1896 Prag + ermordet 17.Mai 1944 KZ Ravensbrück) _Journalistin, Schriftstellerin, Übersetzerin
Franz Kafka * 3.Juli 1883 Prag + 3.Juni 1924 Kierling/Klosterneuburg (AUT) _ Schriftsteller

Liebe Antje-Kathrin Mettin, welche Zugänge gibt es von Dir zur Schriftstellerin/Übersetzerin und Journalistin Milena Jesenska wie zu Franz Kafka, Schriftsteller?

Die Texte Franz Kafkas, seine Erzählungen, Romane, Tagebucheinträge, Briefe und auch seine Zeichnungen, Photographien, Lebensfragmente begleiten mich seit vielen Jahren und sprechen etwas sehr Tiefes in mir an – nicht zuletzt die große Lust am Spielerischen und Theatralen, am Absurd-Hoffnungsvollen, Utopischen, Verrückt-Rettenden bei allem Feingefühl für das namenlose Grauen und die Schrecken unserer Lebenswelt. Es gibt, um es mit Kafka selbst zu umschreiben, eine ›nicht zu ertötende Munterkeit‹ in all dem, was uns von ihm überliefert ist. Ihm niemals in Person begegnen zu können, macht mich sehr traurig – es fühlt sich manchmal so an, als sei er ein in den Ungründen der Zeit verloren gegangener Bruder.

Von Milena Jesenská habe ich zuerst durch Kafka erfahren – und war schnell sehr eingenommen von ihrer Zartheit und Wildheit in einem, ihrer Leidenschaft und Hingabe, ihrem Mut und dem Aushalten all der Verzweiflung, die sie überkommen haben muss in einem Leben, in das sie, gewissermaßen, festgebannt war. Ich stelle mir vor, wie die zwei gemeinsam nach Auswegen gesucht haben, Auswegen aus einem starren, grauen Gezwungensein, aus Unmenschlichkeit, grauem und grauenvollem Leben und bin sehr berührt davon, wie wunderschön beider Lebens- und Spieldrang einander umtanzt zu haben scheint – auch wenn sie letztlich nicht lange Zeit glücklich beisammen sein konnten.

Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin,
Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin vor
dem Wohnhaus von Milena Jesenska in Wien

Wir sind hier am Lebensort Jesenskas, an dem Kafka im Sommer 1920 4 Tage zu Gast war. Welche Eindrücke hast Du vom Haus/Umfeld hier?

Es ist ein schöner Ort, ein schönes altes Haus, und doch hat alles hier auch etwas Drückendes, Lastendes – drinnen wie draußen. Das städtische Leben mit all dem Lärm, mit dem vielen Asphalt und Beton (zumindest heute), die umschließenden Wände und Oberflächen, die das alltägliche Abmühen panzerartig umgeben, wirken auf mich oft erdrückend, einschließend, lähmend, undurchdringlich – eine Stimmung, wie ich sie auch in Kafkas Texten an so vielen Stellen empfinde. Wenn ich mir Franz und Milena vorstelle, kann ich nicht anders: ich sehe dann vor mir, wie sie versuchen, diesen Orten Lebendigkeit und Leichtigkeit zu geben – durch ihre Worte, durch ein Lachen, durch einen Blick, vielleicht durch einen unfunktionalen kleinen Sprung, der gerade in seiner Unnötigkeit bezaubernd ist und das starre Hier und Jetzt, den Zwang und das ›Müssen‹ aufsprengt (es gibt im ›Verschollenen‹ eine ganz ähnliche Geste während Karl Roßmanns Flucht vor dem Polizisten). Oder ich sehe, wie sie ausbrechen aus all dem, wie sie ›ins Freie laufen‹, in die Felder, schließlich in den Wald, wo sie doch so glücklich beisammen sein und sich gegenseitig spüren konnten. Beide, Milena und Franz, waren voller Leben, voller Fantasie, Lust und utopischem Bewusstsein im schönsten Sinne – eine Kraft, die freilich unter den Verhältnissen, in denen sie lebten, zuweilen seltsame, traurige, leidvolle Pfade einschlagen musste (und damit meine ich keineswegs einfach die Familien, das wird der Komplexität der Lebensverstrickungen nicht gerecht – mich ärgert ehrlich gesagt die Beharrlichkeit, mit der man oft Kafkas Familie aus jeglichen zeitgeschichtlichen und sozialen Kontexten isoliert und sich regelrecht festbeißt an der Figur des Vaters).

Wie siehst Du den Briefwechsel und die Beziehung beider?

Leider sind die Briefe Milenas an Franz ja verloren, wie es scheint. Aber aus den Briefen von Franz an Milena teilt sich freilich auch sehr viel von ihren Worten an ihn mit – und ich spüre die Aufregung, die Begeisterung, die Verzweiflung, das Sehnen, das heftig pochende Herz, das angstvolle Harren auf Nachricht, das erwartungsvolle Öffnen der Briefe, die Träume und auch Enttäuschungen, das Öffnen von Worten, Gedanken, Herzen, das Verschließen inj Verzweiflung – ich empfinde etwas von dem, was beide füreinander waren, etwas von der tiefen Vertrautheit, dem gleichzeitigen Sehnen danach und Zurückschrecken davor.

Aber ich fühle mich auch ein wenig unbehaglich, wenn ich in diesen intimen Worten lese, die für mich freilich gar nicht bestimmt sind und auf die nun viele meinen, sie nutzen zu ›dürfen‹, um Franz Kafka wieder einmal aufs Neue durchpathologisieren und -psychologisieren zu dürfen. Offen gestanden: All das interessiert mich nicht. Ob Franz Kafka sich dort selbst klein macht oder nicht – wer hat das Recht, darüber im amüsierten Plauderton oder im Ton der Betroffenheit zu reden? Es sind Worte, die vertraulich gerichtet waren an Milena Jesenska. Es sind offene Worte, Worte, die verletzlich machen und die so viel preisgeben im Vertrauen auf die Feinfühligkeit und Freundlichkeit eben dieser einen Leserin. Die Haltung des ›Darüberstehens und Bescheidwissens‹ blendet uns selbst famos als diejenigen aus, die eigentlich diejenigen sind, die etwas Seltsames tun… Sind wir nicht eigentliche Voyeure einer Situation, an der wir uns am – womöglich verschämten – Zuschauen vielleicht erfreuen dürfen? Freilich gibt es diese Lust am Zuschauen. Aber warum unsere Lust daran durch moralistisches, besserwisserisches, diagnostisches, in jedem Fall: überhebliches Kommentieren in sauberes Gewand kleiden und rechtfertigen? Es ist etwas Wunderschönes in den Worten dieser Briefe, es ist etwas Wunderschönes darin, Zeuge all der Bewegungen, all des Reichtums dieser verbalen, erotischen, sinnlichen Begegnung zu werden. Es ist wie ein kleines Wunder, daran teilhaben zu dürfen – aber es ist auch nicht ganz ›richtig‹.

Gibt es Textstellen, die Du hervorheben möchtest?

»Wie weit ist Wien von Prag, daß Du so etwas denken kannst und wie nah ist es, im Wald beisammen zu liegen und wie lang ist es her. Und Eifersucht ist es keine, es spielt nur so um Dich; weil ich Dich von allen Seiten fassen will, also auch von der Seite der Eifersucht […]«

»Es ist etwa so: ich, Waldtier, war ja damals kaum im Wald, lag irgendwo in einer schmutzigen Grube (schmutzig nur infolge meiner Gegenwart, natürlich) da sah ich Dich draußen im Freien, das wunderbarste was ich je gesehen hatte, ich vergaß alles, vergaß mich ganz und gar, stand auf, kam näher, ängstlich zwar in dieser neuen und doch heimatlichen Freiheit, kam aber doch näher, kam bis zu Dir, Du warst so gut, ich duckte mich bei Dir nieder, als ob ich es dürfte, ich legte das Gesicht In Deine Hand, ich war so glücklich, so stolz, so frei, so mächtig, so zuhause, immer wieder dieses: so zuhause – aber im Grunde war ich doch nur das Tier, gehörte doch nur in den Wald, lebte hier im Freien doch nur durch Deine Gnade, las ohne es zu wissen (denn ich hatte ja alles vergessen) mein Schicksal von Deinen Augen ab. Das konnte nicht dauern. Du mußtest und wenn Du auch mit der gütigsten Hand über mich hinstrichst, Sonderbarkeiten erkennen, die auf den Wald deuteten, auf diesen Ursprung und diese wirkliche Heimat, es kamen die notwendigen, notwendig sich wiederholenden Aussprachen über die »Angst«, die mich (und Dich, aber Dich unschuldig) quälten bis auf den bloßen Nerv […] Ich erinnerte mich daran wer ich bin, in Deinen Augen las ich keine Täuschung mehr, ich hatte den Traum-Schrecken (irgendwo wo man nicht hingehört, sich aufzuführen, als ob man zuhause sei) diesen Schrecken hatte ich in Wirklichkeit, ich mußte zurück ins Dunkel ich hielt die Sonne nicht aus, ich war verzweifelt, wirklich wie ein irregegangenes Tier, ich fing zu laufen an wie ich nur konnte und immerfort der Gedanke: »wenn ich sie mitnehmen könnte!« und der Gegengedanke: »gibt es Dunkel, wo sie ist?«

Du fragst wie ich lebe; so also lebe ich.

Wie hast Du Dich auf das Fotoshooting/die Performance vorbereitet?

Für mich ist das Besuchen solcher Orte, von denen man weiß, dass dort geschätzte, verehrte Menschen gelebt haben, eine ambivalente Angelegenheit – einerseits sind solche Besuche natürlich intensiv und kraftvoll, zugleich aber haben sie auch etwas Lähmendes für mich. Denn gerne würde ich zwar den ›Hauch‹ spüren, die Luft, die um die Damaligen gewesen ist – zu wissen, dass Franz und Milena hier waren, ist wundervoll, zugleich aber auch sehr abstrakt. Es hat sich so vieles verändert, man weiß nicht genau, was, und der Imperativ, der in der ›Luft‹ liegt: »empfinde doch, was hier geschehen ist«, lässt mich sonderbar fühlen, irgendwie bedrückt, beengt, auch: scheiternd. Darum habe ich zur Vorbereitung genau das gemacht, wodurch ich mich Franz Kafka und Milena Jesenská wirklich nahe fühle: in ihren Texten gelesen. Das sind für mich die eigentlichen Begegnungen – die Orte dagegen wandern, so hoffe ich, nach und nach in meine Träume, in mein Unbewusstes und arbeiten sich dann womöglich eines schönen Tages wieder zurück ins Bewusstsein. Ich will damit sagen: Es braucht für mich Zeit, dass die Eindrücke vor Ort zu ›Erfahrungen‹ in mir werden – Erfahrungen, von denen ich eben noch nicht genau sagen kann, wie sie aussehen werden. Insofern gehörte für mich auch zur Vorbereitung: mir darüber klar zu werden, dass ich mir keine Illusionen von diesem Besuch machen sollte und nicht an so etwas wie ein ›magisches Heraufbeschwören‹ festzuhalten. Mir also Zeit zu geben.

Gab es bisher schon Kafka Projekte für Dich?

Franz Kafka begleitet mich seit vielen Jahren – durch meine Beschäftigung mit Walter Benjamins Idee des Erzählens habe ich seine Texte ganz neu, befreit vom schulischen, universitären ›Kafka-Klischee‹, entdecken dürfen, wenn ich es so nennen darf. Seitdem lässt er mich nicht mehr los: in meiner Arbeit zu Benjamin (was Erzählen sein kann, lässt sich an Kafka ganz wundervoll sehen), in meinem lyrischen Schaffen und auch in meinen Theaterprojekten – Kafka selbst war ja ein großer Liebhaber des (jiddischen) Theaters und theatrale Gestik und Formsprache spielt in seinen Texten eine wesentliche Rolle (im wahrsten Sinne des Wortes…).

Im Laufe der letzten Monate ist eine gar nicht ganz so kleine Sammlung an Gedichten entstanden, die sich um die ›Verwandlung‹ oder bestimmte Figuren Kafkas drehen, es gab auch zwei musikalisch-lyrisch-theatrale Abende dazu: die ›Klänge der Verwandlung‹, mit Texten aus der ›Verwandlung‹, meinen Gedichten und großartigen Kompositionen von Mario Cosimo für Elektronik und Traversflöte. Im vergangenen Jahr durfte ich über mehrere Termine verteilt auch einen Klangworkshop zu Kafka geben – teils mit Erwachsenen, teils mit Kindern, teils mit beiden gleichzeitig und dabei habe ich gemerkt: Kafka und Kinder passen wunderbar zusammen, wenn man es nur am richtigen Punkt angeht. Es gab sogar eine kleine Aufführung von Josefines Gesangskünsten mit den Kindern. Erst kürzlich durfte ich außerdem bei einem Theaterworkshop gemeinsam mit den wunderbaren TeilnehmerInnen Szenen aus Kafkas Texten entwickeln und vergangenes Jahr habe ich beim ›Vienna Literature Festival‹, das da gerade Kafka ins Zentrum gerückt hatte, meine ›Genesungen · in Odradekscher Manier‹ vorgetragen. – Mit anderen Worten: Kafka begleitet, trägt und inspiriert mich beständig.

Wie siehst Du als Schriftstellerin den Schreibstil Kafka?

Kafkas Sprache macht etwas Unglaubliches: sie ist sehr konkret, sehr gestisch, sehr nah und detailliert an den Vorgängen und Dingen – und ihnen gleichzeitig nicht verhaftet. Seine Sprache liegt nicht in den Ketten der Pflicht, Schuld und Undurchdringlichkeit (wie es eben seinen Figuren so oft ergeht), sondern in seiner Sprache sucht er etwas nach dem ›Verrückten‹, im Sinne des ›Nicht-Passenden‹, nach dem Entkommen aus dem scheinbar Folgerichtigen und Notwendigen.

Um das mit ein paar Beispielen zu erklären: Kafka nutzt etwa ganz konkrete Sprichwörter, ohne sie aber explizit zu nennen – und was macht er dann mit ihnen? Er führt sie ganz konkret aus, als Handlung, überführt sie sprachlich vom Duktus des ›So-ist-es‹ in eine sprachliche Überprüfung eben dieses Duktus. Ist es wirklich so? Wie wäre es denn, wenn es so wäre? Wie wäre denn etwa ›der Onkel, den ich noch in New York habe‹? Und es gibt so viele kleine Verschiebungen in Kafkas Erzählweise, die unglaublich nah an der ›Realität‹ sind, ihr aber doch nicht entsprechen. Es sind kleine Verschiebungen, wie sie etwa in Träumen vorkommen. Zum Beispiel das Schwert in der Hand der Freiheitsstatue statt der Fackel. Diese Verschiebung kommt vollkommen unscheinbar, nebensächlich daher – so, wie sie geschrieben ist, überliest man sie vielleicht sogar, und doch entsteht mit ihr eine bestimmte Szenerie, eine Traumszenerie, die über die Wirklichkeit mehr Wahres aussagt als das, was unsere Augen uns am Tage mitteilen.

Es gibt das ›Widerborstige‹, Trotzige, Beharrliche in Kafkas Sprache – das Festhalten daran, dass so etwas wie Entkommen doch noch möglich sein könnte. Den Gestus des Nie-zu-Ende-Festlegens – sei es zum Guten oder Schlechten. Das Zögern, Zweifeln, Offenhalten. Freilich wird es immer wieder auf harte Proben gestellt oder die Hoffnung ganz zerschlagen. Aber doch gibt es das ›Von-vorne-Beginnen‹, um die Dinge vielleicht doch einmal in eine andere Richtung zu lenken – um dem Teuflischen des schlechten Endes vielleicht doch einmal zu entkommen. Benjamin hat es so wunderbar treffend beschrieben: dass es bei Kafka ein so starkes Moment des Aufschiebens gibt, ist das eigentlich Hoffnungsvolle seiner Geschichten. Dass Karl Roßmanns Geschichte nicht zu Ende erzählt ist: das ist ein Moment der Erlösung. Die Dinge nicht zu Ende führen zu müssen (ein Ende, das nicht gut sein kann – zumindest nicht in der Welt, wie sie ist) ist etwas Hoffnungsvolles. Das schlägt sich tief in Kafkas Sprache nieder und es gibt so wunderschöne, verrückte, zauberhafte Figuren bei ihm, in denen sich eine ebensolche Hoffnung verkörpert, etwa in Odradek. Odradek kennt kein Ende, er hat auch keinen wirklichen Anfang. Er ist nicht funktional, nicht sinnvoll – aber ganz. Er ist nicht Mensch, nicht Tier, nicht Ding. Hat er Lungen? Vielleicht. Aber sie sind anders. Es muss mit ihm kein Ende nehmen, er ist frei wie sein Name: der Wirklichkeit zwar entlehnt, aber mit ihr nur auf lose, spielerische Weise verbunden. Auf eine Weise, die unser geordnetes, verwaltetes Denken sprengt.

Und all das bedeutet mir so unendlich viel – es durchdringt mich, mein Schreiben, Wünschen, Träumen, Wachsein, Verrücktsein.

Wie war Dein Weg zur Literatur?

Als Kind, als Jugendliche durfte ich die Erfahrung machen, dass Literatur ein wahrer Schatz sein kann – dass es in der aus Worten gewebten Welt einen unerhörten Reichtum geben kann, der sich aus den Elementen dieser Welt speist, sie verwandelt, anreichert und einen als Leser selbst wieder verwandelt in die alte Welt entlässt, die dann doch für einen selbst nicht mehr ganz die alte Welt ist – vielleicht auch deshalb, weil man selbst während des Lesens unmerklich reicher geworden ist, reicher an Erfahrungen, Träumen, Enttäuschungen, Wünschen, Ausdrücken, Gedanken, Verwirbelungen, Irritationen, Tränen und Fragen. Beileibe nicht mit jeder Literatur habe ich diese Erfahrung gemacht, aber doch hat mich diese Möglichkeit leidenschaftlich fasziniert – was mich dann, neben der Theaterwissenschaft, zu einem Studium der Literaturwissenschaft bewegt hat. Mit zwiespältigem Fortgang: viele wunderbare neue Texte durfte ich entdecken oder mich alten neu nähern (wie denjenigen Kafkas!), die Flamme der Leidenschaft wurde im Studium allerdings keineswegs nur genährt, im Gegenteil: ich bin oft verzweifelt an der begeisterungslosen Verwaltungsarbeit, mit der man dort lebendigen Worten und Textgebilden zu Leibe gerückt ist. Ich habe in dieser Zeit natürlich viel über Literatur geschrieben, oft unglücklich, weil ich gemerkt habe, dass ich eine eigene Sprache suche – eine Sprache, die die Texte umspielt –, dass diese Sprache aber im gegenwärtigen akademischen Betrieb wenig Platz hat.

Wie dem auch sei: Abgesehen von meinem wissenschaftlichen und essayistischen Schreiben habe ich immer wieder auch kleine literarische Schreibversuche gemacht – in der Kindheit, in der Schule, während des Studiums –, ganz richtig hat es sich aber nie angefühlt, etwas hat nicht ›gestimmt‹ für mich und es war zuweilen ›forciert‹ und unfrei. Dann plötzlich ist etwas geschehen, das ich selbst kaum erklären kann und das rückblickend eigentlich doch so auf der Hand liegt: ich habe einfach angefangen, Lyrik zu schreiben, sozusagen von heute auf morgen habe ich gemerkt: hier finde ich das, wonach ich so viele Jahre suche. Merkwürdigerweise war Lyrik bis dato genau diejenige ›Gattung‹, die mir am fernsten war – nun ist sie mir am nächsten. Ich hatte mich vorher auch schon gelegentlich an Gedichten versucht, aber  scheinbar brauchte es viele mir selbst nicht ganz klare Entwicklungen in meinem Leben, ehe ich ›es‹ plötzlich hatte und ehe ›es‹ sich dann auch äußerlichen Ausdruck verschaffen konnte. Seitdem schreibe ich und schreibe ich. Natürlich nicht immer nur beschwingt und leichtfüßig, aber doch ist für mich ein gewisses Gefühl des Freien, Luftigen mit der Lyrik verbunden. Das hilft mir auch für mein sonstiges Schreiben, und ich habe begonnen, auch ein paar kleine Erzählungen zu verfassen, befasst mit ›Kindlichem‹.

Was sind Deine aktuellen Projektpläne?

Es gibt so viele Pläne – ich hoffe, dass ich sie alle auch werde umsetzen können. Konkret aber:

Was die literarischen Projekte anbelangt: seit gut zwei Jahren arbeite ich an meinen lyrischen Continuationen, den ›Mikrogrammen‹, die ich etwa auf Instagram veröffentliche (eine lyrische Form bestehend aus Bild und Gedicht, die sich beide aufeinander beziehen). Zu ihnen kommen seit bald einem Jahr – leider – die ›zerbrochenen fäden‹ hinzu, die ich im Andenken an meine geliebte Mutter  schreibe. Sie ist im vorigen April gestorben. Außerdem schreibe ich parallel an verschiedenen Gedichtzyklen, von denen die ›Schwesternschaften‹ bald zum Abschluss kommen sollen (zumindest der erste Band) und hoffentlich auch einen Verleger finden werden.

Ich hoffe sehr, bald die Ruhe und Energie zu finden, in die Tiefe zurück zu meiner Beschäftigung mit Walter Benjamins Idee des Erzählens zu finden. Es soll meine Dissertation werden und ich habe zuletzt Zeit und Abstand gebraucht, um zu meiner eigenen Sprache zu finden.

Ganz aktuell arbeite ich außerdem an einem lyrisch-theatral-musikalischen Projekt zu Selma Merbaum – Selmas Dichtung, ihre biographischen Zeugnisse wühlen vieles in mir auf.

Darf ich Dich abschließend zu einem „Milena  Franz“ Akrostichon bitten?

ach Morgen , ach – verscheuche nicht , was leise singt : das Heute  / —unseres  | und

unser Immerdar / in andre Zeiten fliehen wir , mein

Leben : Du , Dein : Leben — ich ? — wir — werfen uns die :

Enden zu : verknoten sie — und Deins : und meins . ach unser

» nein « , so ganz verwoben , ganz verzweigt , strahlt aus und macht den

Anfang : eines neuen Lebens — ach  —unser Kind : ein Odradek : sind wir —verflochten

ach Feygele, Dein Lied vom Wald , lässt hell erzittern alle Schründe , diese :

Risse – ach – in fliehend Herzgewebe — die Zeiten nisten ohne

Anfang da — / und ohne fort / zu müssen / — bleiben diese Knoten , diese

Nester unsres Pochens , Haut auf Haut , ein

Zittern in der Zeit //erzittere — ach Morgen , ach , verscheuche nicht

Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin,
Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin

Station bei Milena Jesenska  und Franz Kafka _ Wien.

Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin,
Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin

Fotos _ am Wohnort Milena Jesenskas in Wien.
Franz Kafka war im Sommer 1920 für 4 Tage zu Gast in Wien.

„Briefe an Milena“ Franz Kafka. Erstveröffentlichung 1952.

Zur Person_Antje-Kathrin Mettin _ geboren 1989 am Niederrhein, lebt derzeit in Leipzig und ist als Schriftstellerin, Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin tätig. Im Entstehen inbegriffen sind derzeit mehrere Gedichtzyklen: ›Durchbrüche – oder auch: Epiphanien im Bade‹, ›Schwesternschaften‹, ›Farbsuche‹ und ›Mikroskopie : Krustentiere‹ sowie ihre ›Mikrogramme‹ – lyrische Continuationen, die sie laufend bei Instagram veröffentlicht. Parallel dazu arbeitet sie derzeit an einem Buch zu Walter Benjamins Idee des Erzählens sowie an verschiedenen Theaterprojekten – darunter aktuell gemeinsam mit Juliane Harberg eine Aufführung von Paul Scheerbarts ›Okurirasûna‹ sowie Experimente zu einer neuen Form des Licht- und Schattentheaters. Sie studierte, gefördert durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes, Literatur- und Theaterwissenschaft in Leipzig und Paris. Es folgten Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Universität Leipzig sowie der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy.

Antje-Kathrin Mettin und Walter Pobaschnig _
vor dem Wohnort von Milena Jesenska in Wien _ 1_25

Vielen Dank für die freundlichen Begegnungen/Kooperationen/Gespräche am Weg!

Postamt/Bennogassae_Wien

Interview und alle Fotos_Walter Pobaschnig 1/25

Walter Pobaschnig 4_25

https://literaturoutdoors.com

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