Liebe Monica Cantieni, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Als würde ich in ein Büro gehen. Körperpflege und danach ein Cappuccino. Ich versuche, keine Mail zu lesen früh am Morgen, wenn ich dabei bin, an einem Text zu schreiben. Dann habe ich die Recherche schon erledigt, wenn ich schreibe oder ich brauche so wenig Recherche für den Text, dass ich sie beim Schreiben erledigen kann. Zwischendurch. Bei einer Kurzgeschichte, wie ich sie schrieb für die nationale Veranstaltungsreihe MENSCH SEIN | BEING HUMAN, Autor*innen gegen Hass, die noch bis Herbst 2025 läuft – die letzte Station ist im November in Lausanne – habe ich nur Details recherchieren müssen. Die Fragen taten sich beim Schreiben auf. Ich las Statistiken. Mehr brauchte es nicht. Aber beispielsweise beim spartenübergreifenden Projekt «Alberi arrabiati/Wütende Bäume», einer Installation im Park des Museo Villa dei Cedri in Bellinzona recherchierten das Künstlerpaar Hemauer / Keller und ich parallel wissenschaftliche Texte zu Vorgängen in Bäumen. Wie sie trinken, wie Buchen auf die Klimaerwärmung reagieren, was die neuesten Erkenntnisse sind, ob und falls ja: wie sie kommunizieren. Wie sich der Stress bei ihnen zeigt, weil es zu warm und somit zu trocken ist, wie sie sich zu wehren versuchen. Erst danach konnte ich die Monologe des Baums schreiben, der in fünf Eskalationsstufen immer wütender wird und spricht, flucht, lästert und uns schlussendlich die Pest an den Hals wünscht. Die Audios werden ausgelöst durch ein Feuchtigkeitsmessgerät, das am Baum angebracht ist. Je schlechter es dem Baum geht, desto mehr flucht und wütet er – gegen uns, die Menschen.
Lange Texte verlangen einen anderen Atem. Er muss länger halten. Es ist wie Apnoetauchen ohne den Wunsch nach einem neuen Rekord. Es ist ein Aufgehen im Text, ein Kennenlernen und Erfahren des Textes beim Schreiben, sogar für das Meer um mich bin ich zuständig; immer mit dem Wissen, dass ich wieder auftauchen muss und auch soll. Je nach Mix der Textsorten und auch Arbeiten, die wohl die meisten von uns tun, um zusätzliches Geld zu verdienen, kann ich also nicht sagen, dass mein Tagesablauf ein geregelter ist. Er beginnt immer um 08.00 Uhr. An Schulen – mit einem Workshop oder dem Jugendbuch unter dem Arm – selbstverständlich auch früher. Das schon. Aber danach ist vieles offen und wird laufend angepasst. Immer an das, was es braucht.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, wer wir als Gesellschaft und als Einzelne sein wollen. Menschlich und auf unsere Umwelt bezogen.
Wollen wir ökologisch weiter Raubbau betreiben? Unsern Kindern und Enkel*innen Wüsten und Trümmer hinterlassen?
Wollen wir eine Gesellschaft sein, die dem Märchen von der Lügenpresse aufsitzt und aktiv daran mitarbeitet, die Pressefreiheit abzuschaffen? Wer würde dann berichten über sozialisierte Verluste und personalisierte Gewinne, kostspielige Missstände über Gemauschel auf Kosten der Steuerzahler*innen, von denen viele ärmer werden und sehr wenige immer reicher?
Wollen wir eine Gesellschaft sein, die weiterhin dem Aufstiegsmärchen hinterherrennt, nur um irgendwann feststellen zu müssen, dass das Versprechen ein leeres ist und wir aus Wut und Frustration gewillt sind, ohne einen Funken von Menschlichkeit Schwächere und Geschwächte zu treten? Wollen wir eine Gesellschaft werden, welche Empathie und demokratische Werte für Schwäche hält, eine Gesellschaft, die so hochgradig individualisiert lebt, dass wir als Individuen nicht mehr fähig sind oder uns in der Lage sehen, Gemeinsinn zu pflegen; eine Gesellschaft, die Minderheiten nicht schützt sondern ausgrenzt und sie zunehmender Gewalt ausliefert? Dazu gehören auch Frauen, die beileibe keine Minderheit sind. Möchten wir da dabeigestanden haben? – Beim Rückschritt? Beim Einschüchtern, bei Prügel, dem Blut, der Demütigung, der Angst, einem ersten Toten, dann einem nächsten, später vielen? So lange, bis es unsere Liebsten trifft oder uns selbst – aus irgendeinem Grund, den wir nicht verstehen?
Möchten wir also eine Gesellschaft sein, die Menschenrechte mit Füssen tritt, die Gesetze, die sie uns garantieren, wieder ersetzen durch das Recht des Stärkeren? Um dann die Würde ganzen Menschengruppen einfach willkürlich abzusprechen, zu Hause oder am Stammtisch zu entscheiden, wer letztendlich ein Existenzrecht hat und wer nicht und danach die Exekution in Auftrag zu geben, zu exekutieren oder der Exekution billigend beizuwohnen? Ob nun ökonomisch oder mit einer Waffe in der Hand.
Wollen wir unsere Freiheit wahrnehmen, die wir alle haben?. Unsere Verantwortung darin – oder lieber nicht? Hier. In noch weiten Teilen Europas.
Wir sind an einem Scheideweg.
Manchmal hilft es mir, mir vorzustellen, wie ich erinnert werden möchte? Wer möchte ich gewesen sein? Möchte ich jemand sein, für den sich meine Kinder, meine Enkel*innen mit dem Abstand eines halben Jahrhunderts schämen, wenn sich der Wertekompass wieder erholt hat oder möchte ich jemand sein, von dem sie gerne erzählen? Ich frage mich tatsächlich nie, was meine Nachbarn von mir denken. Aber wie die Geschichte in Form meiner Enkel*innen auf mich zurückschaut sehr wohl.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Sie soll unbestechlich Zeuge sein. Stark soll sie sein wie der Espresso an jedem italienischen Autogrill, süss und schmerzhaft wie die erste glückliche Liebe und frech wie der Wellensittich meine Tante Tilde.
Was liest Du derzeit?
Asal Dardan, Traumaland, Hoffmann und Campe (Sachbuch)
Paul Lynch, Das Lied des Propheten, Klett-Cotta (Roman)
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Nicht müde werde, Hilde Domin
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten

Vielen Dank für das Interview, liebe Monica, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Monica Cantieni, Schriftstellerin
Zur Person/über mich: Monica Cantieni, Schriftstellerin, wohnt in Wettingen. Ihr Roman Grünschnabel, Schöffling & Co, Frankfurt a.M., 2011 wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert, sowie – in seiner englischen Übersetzung 2015 – für den First Book Award des Edinburgh International Book Festivals. Der Roman ist in sechs Sprachen übersetzt. Für SRF baute sie das Onlineangebot der Abteilung Kultur auf und leitete es mehrere Jahre. Ihre Filmplattform Frischfilm gewann den Grimme Online Award. Ihr erstes Jugendbuch, Zwischen Leben, erschien 2023 bei da bux und ist in Bangla und Mararthi übersetzt.
Sie ist Mitbegründerin von «MENSCH SEIN | BEING HUMAN, Autor*innen gehen Hass», einer nationalen Lese-Veranstaltungsreihe gegen Hass und ferner Mitglied der «Creative Climate Leadership Switzerland», die mit künstlerischen Projekten auf die Klimaveränderung aufmerksam macht. Zum Beispiel mit dem Künsterduo Hemauer / Keller im Museo Villa dei Cedri, Bellinzona mit der Parkinstallation «Alberi arrabiati/Wütende Bäume».
https://www.monicacantieni.com

„Mein Vater hat mich für 365.- Franken von der Stadt gekauft.“ So beginnt die Geschichte eines Kindes, das, zur Adoption freigegeben, bei neuen Eltern im Immigrantenmilieu der 1970er Jahre landet. Inmitten dieser bunt gemischten Umgebung versucht das Kind Fuß zu fassen und sich, mit Hilfe einer Wörtersammlung in vielen Streichholzschachteln, zurechtzufinden. Was nicht so einfach ist; und richtig groß werden die Probleme, als es beim italienischen Gastarbeiter im Kleiderschrank eine Entdeckung macht, die eine Lawine auslöst.
GRÜNSCHNABEL besticht durch ungewöhnlichen Bilderreichtum, eine eigenwillige Erzählweise und lakonische Dialoge.
Monica Cantieni wurde für diesen Roman vom Aargauer Kuratorium gefördert. Felicitas Hoppe urteilte als Mitglied der Jury: „Der tragisch-komische Ton bricht mit vertrauten realistischen Erzählmustern und öffnet, Traditionen osteuropäischer Literatur folgend, bei aller Zeitgenossenschaft imaginäre Räume jenseits von Ort und Zeit.“
https://www.schoeffling.de/produkt/gruenschnabel/
Monica Cantieni, Grünschnabel. Roman. Schöffling&co.
240 Seiten | gebunden
€ (D) 19,95 | sFr 28,– | € (A) 20,60
ISBN 978 3 89561 345 6
E-Book
240 Seiten | E-Book
€ (D) 9,99 | sFr 10,– | € (A) 9,99
ISBN 978 3 89561 978 6
Fotos: Ayse Yavas
Walter Pobaschnig 27.3.2025
https:literaturoutdoors.com