„den Raum von den Rattenfängern zurückerobern“ Martin Horváth, Schriftsteller _ Wien 7.3.2025

Lieber Martin Horváth, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Sehr unterschiedlich, je nachdem, welches meiner beiden Leben gerade im Vordergrund steht: das literarische oder das musikalische.

Wenn ich schreibe, werde ich immer auch ein Teil der Welt, die ich zu erschaffen versuche. Das funktioniert am besten bei Schreibaufenthalten in der Abgeschiedenheit, die nur durch ausgedehnte Spaziergänge unterbrochen werden.

Wenn die nächsten musikalischen Projekte anstehen, dann ist natürlich Üben und Vorbereiten angesagt. Die Proben, bei denen man etwas gemeinsam erarbeitet, und die Konzerte, bei denen die Früchte dieser Arbeit erklingen, bilden für mich einen schönen Kontrast zum einsamen Schreibprozess.

Martin Horváth, Schriftsteller, Musiker

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich kann und will nicht für alle sprechen. Mir persönlich ist es wichtig, Stellung zu beziehen, als „alternativlos“ geltende Narrative zu hinterfragen, Kritik zu üben und Ungerechtigkeiten anzusprechen. Dabei darf man aber den lauten Rattenfängern und Zerstörern nicht zu viel Raum geben, auch wenn sie allerorten wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden schießen. Man muss sich im Gegenteil diesen Raum zurückerobern und versuchen, ihn mit schönen, positiven Dingen zu füllen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Manch Autor mag zwar davon träumen, mit seinen Büchern die Welt zu verändern, die Träume werden jedoch nur in den seltensten Fällen wahr. Trotzdem ist der Nachdenk- und Nachfühlprozess nicht zu unterschätzen, den ein gutes Buch bei Menschen auslösen kann. Um den von mir sehr geschätzten Salman Rushdie zu zitieren: A poem cannot stop a bullet, a novel can’t defuse a bomb. But we are not helpless. We can sing the truth and name the liars.

Auch ich sehe meine Aufgabe darin, mich als Schriftsteller zu den brennendsten Themen zu äußern und dabei den Finger auf so manche Wunde zu legen. Das reine Abbilden der Wirklichkeit ist mir meist zu wenig: Manchmal liegt im Surrealen, aber auch in der Übertreibung und Zuspitzung die tiefere Wahrheit. Oder um es mit Picasso zu sagen: Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.

Auch als Musiker erschafft man im Augenblick des Konzerts andere Wirklichkeiten. Im besten Fall gelingt es einem dabei, das Publikum in eine wundersame Welt jenseits von Zeit und Ort zu entführen.

Was liest Du derzeit?

Wenn ich an einem neuen Roman arbeite, lese ich nur wenig Belletristik, weil sie mich zu sehr vom eigenen Schreiben ablenkt. Ein paar großartige Bücher, die ich in den letzten Monaten trotzdem (erneut) gelesen habe:

Christoph Ransmayr, Morbus Kitahara

Helena Adler, Die Infantin trägt den Scheitel links

Dörte Hansen, Zur See

Elfriede Jelinek, Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr

Han Kang, Menschenwerk

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Die Macht, und zwar jede Macht, fürchtet nichts mehr als das Lachen, das Lächeln und den Spott.

Dario Fo anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1997

Martin Horváth, Schriftsteller, Musiker

Vielen Dank für das Interview, lieber Martin, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Musikprojekte und persönlich alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen: Martin Horváth, Schriftsteller, Musiker

Zur Person/über mich: Martin Horváth wurde 1967 in Wien geboren, studierte an der dortigen Universität für Musik und darstellende Kunst und arbeitet seit 1988 als freischaffender Musiker. Konzerte und Aufnahmen mit verschiedenen Orchestern (Wiener Staatsoper, Wiener Volksoper, Radiosymphonieorchester Wien, Wiener Akademie u.a.) und Kammermusikensembles (Ensemble Continuum Wien, Merlin Ensemble, Ensemble Teatro Barocco, Ensemble 1756) führten ihn in zahlreiche Länder und zu renommierten Festivals (Salzburger und Bregenzer Festspiele, Schubertiade Feldkirch u.a.)

Während eines fünfjährigen New-York-Aufenthalts arbeitete er an einem Forschungsprojekt zur Geschichte der österreichisch-jüdischen Emigration in die USA. Für seine seit 1989 in Zeitschriften und Anthologien publizierten Erzählungen, Essays und andere Texte erhielt er mehrere Preise und Stipendien. 2012 erschien sein Romandebüt, Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten (DVA), das auch ins Niederländische und Ungarische übersetzt wurde. 2019 wurde sein zweiter Roman Mein Name ist Judith vom deutschen Penguin Verlag veröffentlicht. Derzeit arbeitet er an mehreren Texten für Theater und Oper; sein dritter Roman Baroco erscheint im März 2025 bei Kremayr & Scheriau.

Aktuelle Buchneuerscheinung von Martin Horváth:

Baroco

San Lorenzo Settefrati, ein verlassenes, idyllisch gelegenes Dorf im Süden Italiens. Eine Stiftung will den Ort wiederbeleben und lockt mit einem Versprechen: einem nachhaltigen Leben im Sinne des Gemeinwohls. Einer der neuen Bewohner ist der ehemalige Unternehmensberater Jakob Metzger.

Im örtlichen Kloster wurde ein auf Künstliche Intelligenz gestützter Thinktank für Zukunftsfragen eingerichtet. Doch niemand im Dorf kann sagen, woran dort wirklich gearbeitet wird. Wer sind die skurrilen Charaktere um Norman Sherwood, die mit spektakulären Aktionen die Machenschaften der internationalen Finanzelite entlarven? Wer finanziert das Projekt? Und wer ist der ominöse Erzähler, der damit droht, die Menschheit auszulöschen? Als Jakob ein Job im Kloster angeboten wird, ist er vom kreativen Arbeitsumfeld angetan. Und wird bald nichtsahnend Teil eines groß angelegten Eingriffs in das Räderwerk der Weltwirtschaft.     

 Baroco – Kremayr & Scheriau

Baroco, Roman. Martin Horváth.

Hardcover mit Schutzumschlag, gebunden

440 Seiten, Format 12,0 x 20,0

1 Auflage, Kremayr & Scheriau 2025

27,00 € inkl. MwSt.

ISBN: 978-3-218-01450-2

Fotos _ Thomas Lehmann/Verlag.

Walter Pobaschnig 5.3.2025

https:literaturoutdoors.com

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