Liebe Iracema Engel, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Jeden Tag arbeite ich konsequent an der Verwirklichung vollkommen nutzloser Projekte, die mir ein närrisches Vergnügen bereiten und anderen Freude und frische Denkanstöße bringen sollen. Seit ich meinen YouTube-Kanal eröffnet habe, spaziere ich an manchen Tagen mit meinem Thonet Sessel durch die Straßen Wiens auf der Suche nach einem geeigneten Platz, um aus Negomi zu lesen. Auch meine Blumenküche ist schon zur Bühne für meine Videos geworden. Dort läuft überhaupt alles zusammen: Wenn ich mich oder die Welt zu ernst nehme, gehe ich in meine Blumenküche, koche, backe Brot oder Muffins. Dort widme ich mich jeden Morgen mit meinem geliebten Thomas der philosophischen oder literarischen Lektüre. Dort setze ich mich am Abend an den Küchentisch und schreibe bis in die Nacht hinein.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Jetzt? Heißt: Heute?, in unserer Zeit?, gegenwärtig? Für jeden ist wohl etwas anderes wichtig. Ich kann nicht für eine Allgemeinheit, für „alle“ oder gar für „uns alle“ sprechen, da ich nicht weiß, wer damit eigentlich gemeint sein kann. Für mich ist jetzt und jeden Tag aufs Neue wichtig, mein Herz zu öffnen, meinen Mitmenschen mit Liebe, Verständnis und Geduld zu begegnen, ihnen zuzuhören, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ihnen nicht meine Meinung aufzuzwingen oder zu beweisen, dass ich „es“ besser weiß als sie. Ich stelle anderen gerne Fragen, ich interessiere mich für das, was sie tun und für das, was sie denken. Ich bin Zuhörerin, die aus dem, was andere sagen, lernt und sie weder vorverurteilt noch aufgrund einer Äußerung aburteilt. Das fällt mir nicht immer leicht, aber es ist eine wunderschöne tägliche Übung in Mitmenschlichkeit, die mir beibringt: Das beste Mittel gegen Vorurteile ist Interesse!

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich fürchte, dass vor Aufbruch und Neubeginn Zerstörung und Leid stehen. Die aktuelle Weltlage macht mich traurig, bisweilen verzweifelt und hoffnungslos. Ich habe den Eindruck, dass Verstand und Vernunft bei den weltpolitisch Mächtigen fast restlos verschwunden sind. Die Ausbeutung und Zerstörung der Natur, die Vernichtung von Spezies schreiten im globalen Maßstab ungebremst voran. Der Ruf nach Menschenrechten geht unter im Bombengewitter der Kriege. Hat die Menschheit ein Interesse an ihrem eigenen Überleben? Das ist die Frage! Was Zuversicht und Freude in mir weckt sowie Mut und Schaffensdrang sind die vielen Kunstschaffenden weltweit, die Schönes vermehren, Sinn und Erkenntnis stiften, genauso wie die Aktivisten, die sich für Menschenrechte, für Frieden, für Klima- und Artenschutz einsetzen, und alle, die, egal an welcher Stelle, im Alltag zu einem harmonischeren Miteinander ihren Beitrag leisten. Aber Harmonie ist nicht ohne Streit zu haben! Kunst und Literatur haben diesen Streit schon immer ausgetragen: sie stellen das Menschliche dar in all seiner Niedertracht und Größe, seiner Gewalt und Schönheit, seiner Freude und seinem Schmerz; sie geben Einblick und eröffnen neue Perspektiven, sie verunsichern, provozieren, sie werfen Fragen auf und geben keine einfachen Antworten. Darauf wird es auch in Zukunft ankommen!

Was liest Du derzeit?
Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.
Und, wie ich es einmal im Jahr zu tun pflege, meine persönliche Bibel, die jeden Weltschmerz durch ein herzhaftes Lachen kuriert: Candide oder der Optimismus von meinem heiß geliebten Monsieur de Voltaire.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Sapere aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Immanuel Kant
Vielen Dank für das Interview, liebe Iracema, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Kunstprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Iracema Engel, Schriftstellerin
Zur Person/über mich: Iracema Engel ist Traumtänzerin, Tagediebin, schreibende Poetin und Liebende. Geboren und aufgewachsen im Waldviertel, wollte sie schon als kleines Kind Schriftstellerin werden. Nach ihrem Schulabschluss ging sie nach Wien, wo sie am Institut für Romanistik an der Universität Wien Französisch studierte. Mit der Veröffentlichung ihres Debütromans Negomi erfüllte sie sich ihren Kindheitstraum. Iracema Engel lebt, liebt und schreibt in Wien.
Aktuelle Buchneuerscheinung von Iracema Engel:

Negomi, Iracema Engel. Roman.
Wien, 2010: Die 18jährige Negomi hat gerade die Schule abgeschlossen und zieht vom Land in die Großstadt, um sich ihren Mädchentraum zu erfüllen: Schauspielerin zu werden! Sie lernt in dem 44 Jahre älteren Schauspieler, Quergeist und Pleitier Felix die Liebe ihres Lebens kennen und erlebt eine körperliche, geistige und seelische Revolution. Sie beginnt, Fragen zu stellen, und stößt in ihrer sozialdemokratischen Familie auf Lügen, Gewalt, Rassismus und korrupte Machenschaften, die eng mit den dunkelsten und skandalösesten Kapiteln der österreichischen Zeitgeschichte verwoben sind. Plötzlich macht es einen lauten Knall, und Negomi taucht in ihre Kindheit im Waldviertel ab, um zu finden, was sie sucht, ohne zu wissen, was es ist und ob sie es finden wird. (Klapptext)
“Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben.” Vorspruch zum Buch.
Mit ihrem autofiktionalen Debütroman Negomi setzt Iracema Engel ihrer Kindheit und Jugendzeit ein Denkmal und hält ein literarisches Plädoyer für eine außergewöhnliche Liebe. (Buchinfo)

Negomi, Iracema Engel. Roman.
Seiten: 592 _ Softcover
ISBN: 978-3-384-32358-3
24,99 €
https://shop.tredition.com/booktitle/Negomi/W-364-135-117
Fotos _ privat; Buchcover _ Verlag.
Walter Pobaschnig 17.2.2025
https:literaturoutdoors.com