


Sandra Schoessler, Schriftstellerin _ Wien _
Martin Meyer, Schriftsteller _ Bayern _
performing „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre„, Roman, Heimito von Doderer, 1951. _
Wien _ Originalschauplatz 1/25




















Martin Meyer, Schriftsteller _ Bayern _
Im Interview: Martin Meyer, Schriftsteller _ Bayern_
Lieber Martin Meyer, herzlich willkommen hier am Romanschauplatz „Strudlhofstiege“/Heimito von Doderer (Schriftsteller * 5.9. 1896 in Hadersdorf/NÖ † 23.12.1966 in Wien). Welche Zugänge gibt es von Dir zu diesem Roman?
Martin: Zunächst einen biografischen. Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aus dem Böhmerwald. Mehr noch als sie pflegte meine Großtante das Deutsch der Donaumonarchie, die in unserer Familie erst mit ihrem Tod im Jahre 2000 beendet war.
Ich fühle mich der österreichischen Literatur sehr eng verbunden. Heimito von Doderer ist mir als Autor seit meiner Jugendzeit bekannt, auch die Titel seiner Bücher. Ich las damals aber eher Friedrich Torberg, Joseph Roth sowie Stefan Zweig.

aktueller Roman: „Die Orgelbauerin“ Gmeiner Verlag
Der Roman spielt konzentriert im Stadt- und Lebensumfeld entlang der Liechtensteinstraße im 9.Wiener Bezirk mit dem zentralen Mittelpunkt der Strudlhofstiege. Welche Eindrücke hast Du von diesem literaturgeschichtlich so bedeutsamen Schauplatz Wiens?
Info: „Die Strudlhofstiege stellt in der Strudlhofgasse, die zwischen der Währinger Straße und der wesentlich tiefer gelegenen Liechtensteinstraße verläuft, eine Verbindung für Fußgänger her. Sie wurde unter Karl Lueger nach einem Entwurf von Theodor Johann Jaeger (1874 – 1943) im Abschnitt der Gasse zwischen Boltzmanngasse und Pasteurgasse erbaut und am 29. November 1910 zur Benützung freigegeben. Die Kosten beliefen sich auf 100.000 Kronen.“ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Strudlhofstiege 9.1.2025
Martin: Trotz der dort angebrachten Gedenktafel mit von Doderers kurzem Gedicht könnte dieser literarische Ort gut noch etwas mehr ins Rampenlicht gerückt werden. Man könnte doch im 9. Bezirk einen Heimito-von-Doderer-Weg mit Stationen an der Stiege und in den Gassen, Plätzen und Gebäuden anlegen, die in seinen Büchern vorkommen.

Im Roman stehen Liebe, Gesellschaft an den Gründen und Abgründen der Vergangenheit und der herausfordernden Gegenwart der 1920er Jahre im Mittelpunkt. Wie aktuell ist der Roman in gegenwärtig herausfordernden gesellschaftlichen Zeiten?
Martin: Der Untergang der Donaumonarchie wurde von vielen Menschen als Zeitenwende empfunden, ja oftmals auch als Verlust empfunden und erlitten. Verlusterfahrungen waren zu jeder Zeit ein starker Antrieb zu schreiben. Auch der heutige Mensch erlebt das Gefühl, Verlusten ausgesetzt zu sein, ja gar von Kontrollverlust sind wir in dieser Zeit betroffen. Große Literatur erwächst gern aus solchen Abstürzen.

Im Mittelpunkt unseres Fotoshootings stehen die Romanfiguren Mary und Melzer, welche Ihr darstellt am Romanschauplatz. Herzlichen Dank für die großartige Performance und alle Bemühungen um das großartige Styling der Zeit. Welche Überlegungen hattest Du zu Styling und zu den Figuren im Vorfeld? Was charakterisiert Mary und Melzer?
Martin: Zunächst zum Styling: von vornherein mit Hut. Dazu einen möglichst langen Mantel. Den bisweilen verpeilten und unentschlossenen Blick brauche ich nicht erst einzustudieren. Mag sein, dass ich auf mein Äußeres mehr Wert gelegt habe, als es Melzer getan hätte. Irgendwie dachte ich bei ihm auch oft an Musils „Mann ohne Eigenschaften“, und manchmal komme ich mir ja auch selbst vor wie ein bisserl aus Raum und Zeit gefallen.

Was ist Liebe? Was lässt Liebe wachsen, was Liebe untergehen?
Martin: Zu Liebe ist schon zu viel Kluges gesagt, als dass ich dazu noch Neues beitragen wollte. Irgendwo stieß ich auf einen schönen Aphorismus dazu, der mich anspricht, von woher er auch immer stammen mag: Liebe, die sich nicht verschwendet, verschwindet.


Melzer rettet Mary am „21.September 1925“ bei einem Straßenbahnunfall, bei dem sie das rechte Bein verliert, das Leben. Hast Du schon einmal jemand in einer (lebens)gefährlichen Situation gerettet und was hatte dies für persönliche Folgen?
Martin: Selbst habe ich noch niemanden aus Lebensgefahr gerettet, aber ich wurde selbst in einer solchen Situation vor Schlimmerem bewahrt. Ich glitt als Kind in einem See von einer Luftmatratze ins Wasser und konnte noch nicht schwimmen. Die Szene steht mir bis heute noch vor Augen und lässt mich im Innern frösteln.





Wir haben diese dramatische Unfallszene am Romanschauplatz unfallfrei inszeniert. Wie hast Du die Performance dieser Romanschlüsselszene in Erinnerung?
Martin: Ich bin für Stunts nicht zu gebrauchen, ich hatte da eher die in diesem Moment herannahende Straßenbahn im sinnenden Augenwinkel, als dass ich mich auf Szene und Rolle konzentriert hätte. Leider.


Wie musikalisch/rhythmisch schreibt Doderer? Wie würdest Du seinen Stil beschreiben?
Martin: Er hat schon etwas Einzigartiges. Er mäandert stets, von Hirnwindung zu Hirnwindung, rührt an tiefe Bewusstseinsschichten. Nur wenige Minuten zu Fuß entfernt von dem gewiss prominentesten Wiener des 9. Bezirks, Sigmund Freud, wird Doderers an sich nur kleines Grätzel literarisch zu einer abgründig tiefen Wanderung durchs alte Wien. Freud schrieb geradliniger, knapper und nüchterner. Schon von daher war Freud (nicht nur von Geburt) kein wirklicher Wiener. Freud schrieb Psychogramme, Doderer Wimmelbilder. Wien lebt und klingt aber in beiden fort, und es wäre nicht Wien, fügte es den Bildern nicht immer noch unterschwellige Melodien dazu, wie Doderer es in allen Romanen aus seiner Feder tat. Seine Sprache ist auch Musik, oft sanft sich verströmend und urplötzlich ein Paukenschlag. Wie bei Joseph Haydn. Auch Sigmund Freud verstand mehr von Musik, als er selbst und seine Texte uns haben preisgeben wollen.

Was hast Du mit Doderer gemeinsam?
Martin: Doderers Belesenheit und Genauigkeit. Und seinen Sinn für Klang und Musik. Nur dass ich mich wesentlich kürzer fasse.

Was ist Dir in Deinem Schreiben wichtig und was sind Deine aktuellen Projektpläne?
Martin: Wien ist ein Sehnsuchtsort auch für neue Projekte. Immer wieder reizt mich der Gedanke, einen Roman dort anzusiedeln. Derzeit versuche ich, Ideen zu Romanen reifen zu lassen, auch kürzere Projekte und mein Engagement in Autoren-Verbänden fordern mich. Und es reizt mich, auch journalistisch tätig zu sein. Seit Kurzem schreibe ich als freier Mitarbeiter für eine nahe Bamberg erscheinende Kultur-Zeitung.

Lieber Martin Meyer, herzlichen Dank für Dein Interview! Darf ich Dich abschließend zu einem Akrostichon bitten?
Schatten
Totverlebter Jahre,
Ruhelos
Unter der Haut.
Dielenknarzen,
Lange, wollene Mäntel,
Hofburg im Dämmer,
Offene Wunden,
Frierende Glieder, spazierend,
Seufzer der Strudlhofstiege.
Trauernde Liebe,
Irrsal im Herzen.
Existenzfrösteln,
Grummeln und Raunzen,
Erzählt vordem fiebernd durchwacht.
Herzlichen Dank, liebe Sandra und lieber Martin, für das wunderbare Fotoshooting & Interview auf den literarischen Spuren Heimito von Doderers in Wien!
Viel Freude und Erfolg für Eure großartigen Literaturprojekte und auf bald wieder in Wien!

Sandra Schoessler, Schriftstellerin _ Wien _
Martin Meyer, Schriftsteller _ Bayern _
performing „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre„, Roman, Heimito von Doderer, 1951. _
Wien _ Originalschauplatz 1/25
Sandra Schössler, Schriftstellerin _ Wien.
Martin Meyer_ Schriftsteller, Musiker_ Franken/Bayern.
Aktueller Roman von Martin Meyer:

Weimar, 1919. Paula, Tochter eines Orgelbau-Unternehmers, will unbedingt selbst Orgelbauerin werden. Sie geht bei Hans Meichelbeck, der sich im Streit von Paulas Vater getrennt und eine eigene Orgelbauwerkstatt gegründet hat, in die Lehre. Inspiriert vom Weimarer Bauhaus, denken Hans und Paula das alte Handwerk neu. Paula freilich sieht sich als weit und breit einzige Frau im Orgelbau insbesondere mit familiärem Widerstand konfrontiert. Kann sie dem Gegenwind trotzen?
320 Seiten, 13,5 x 21 cm, Paperback
Print 18,– € / E-Book 13,99 €
ISBN 978-3-8392-0687-4
https://www.gmeiner-verlag.de/buecher/titel/die-orgelbauerin.html
Zur Person: Martin Meyer: Martin Meyer, geboren 1967, studierte Jura und war in Bamberg als Staatsanwalt und Richter tätig. Nach seinem Ausscheiden aus dem Justizdienst im Jahr 2007 öffnete er sich seinen literarischen Begabungen und schreibt seither Romane, Kurzgeschichten und Gedichte. Aufgrund seiner vielfältigen Interessen wandelt er dabei auch zwischen den Genres.
Sein juristisches Fachwissen gibt er heute als Dozent in Workshops für Autorinnen und Autoren weiter. Vor allem aber spielt er im Nebenamt Orgel und Posaune. Seine Liebe zur Orgel und zur Musik hat ihn zu diesem Roman inspiriert. Martin Meyer lebt mit seiner Frau im Herzen Frankens.
https://www.gmeiner-verlag.de/autoren/autor/1277-martin-meyer.html
Lesetermine _ Martin Meyer:
https://www.gmeiner-verlag.de/autoren/autor/1277-martin-meyer.html
Alle Fotos _ Walter Pobaschnig _ Wien _ literarischer Originalschauplatz _ 1/25
Walter Pobaschnig