Lieber Marcus Josef Weiss, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Mein Tagesablauf ist stark ritualisiert. Aufstehen zwischen 06:00 und 07:00, ein selbstdesignter Trainingsablauf (Geist-Körper-Koordination), danach Kaffee und Schreiben, dann Lesen und Meditation.
Dann ist es 12:00. Ab da, E-mails, Vorbereitungen und restliche Tagesaktivitäten.
Ab 19:00 endet der Tag meistens wieder so wie er begonnen hat. Außer dem Kaffee. Das geht nachts leider nicht.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ich würde hier gerne etwas Kluges sagen. Aber die Wahrheit ist: ich weiß es nicht. Das muss jeder für sich selbst herausfinden.
Oder anders herum… vielleicht ist das meine Antwort… Das jeder als Einzelner sich auf seine individuellen, inneren Stimmen und Zwischentöne sensibilisiert. Das jeder als Einzelner, der schwelenden Tendenz der Zeit widersteht, mit dieser oder jener Menschenmasse… mit dieser oder jener Meinungsmasse zu verklumpen. Die Kultivierung des Bewusstseins, ein Einzelner zu sein… der sich nicht und niemals in den Gedankenbrei von diesem oder jenem Lager einrühren lässt. So könnte ich es vielleicht formulieren…
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?
Ähnlich wie vorhin, würde ich auch hier antworten, dass jede und jeder selbst und eigenverantwortlich zu bestimmen hat, was für sie und ihn wesentlich ist und was nicht. Aber die Leitfragen „Was ist wichtig? Was ist richtig?“ als tägliche Mentalhygiene scheinen mir drängender als je zuvor.
Was die Rolle der Kunst an sich betrifft, so denke ich, dass sie überhaupt keine Rolle ‚an sich‘ hat. Ich möchte das mit einer Analogie veranschaulichen. Die Rolle der Kunst verhält sich analog zur Rolle des Geistes. Wer seinen Geist abstumpft und mit Trivialitäten und Banalitäten niedermüllt und betäubt, wird ihn nicht vermissen. Er wird seine Abwesenheit nicht mal bemerken. Und ebenso wenig irgendeine (egal wie ästhetisch raffinierte) Kunst. Umgekehrt aber auch.
Wer einen lebendigen, lustvollen, sich Tag für Tag ausdehnenden Geist pflegt, der wird über das Wesen und Medium der Kunst die Unendlichkeit berühren und durch sie den höchstmöglichen Grad an ‚Sinn‘ und ‚Existenz‘ erfahren.

Was liest Du derzeit?
Den Briefwechsel von Albert Camus mit der brillanten französischen Schauspielerin Maria Casares. Beide frönten über mehrere Jahrzehnte (!) hinweg eine ebenso schöne wie wilde, Himmel und Hölle durchschreitende, leidenschaftliche und künstlerische Verbindung.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ein Zitat aus meinem ersten Stück: „Das Fremde“ – das mir erst neulich wieder in einem sehr konfliktbetontem Umfeld frisch ins Gedächtnis gerufen wurde.
„Es ist nicht ganz leicht,
die Ketten loszulassen,
an denen der eigene Stolz hängt.“

Vielen Dank für das Interview, lieber Marcus, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theater-, Kunstprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Marcus Josef Weiss, Regisseur, Autor, Schauspieler
Zur Person/über mich: Marcus Josef Weiss lebt in Wien und Paris. Seit über 20 Jahren schreibt, inszeniert und spielt er Theaterstücke, unter anderem in den Kammerspielen Hamburg, dem Landestheater NÖ, der Kunsthalle Krems, dem Naturhistorischen Museum Wien und dem Volkstheater Wien. Er ist außerdem ein preisgekrönter Dokumentarfilmer und hat seine Leidenschaft für visuelle und experimentelle Medien in die Entwicklung und Leitung mehrerer langfristiger arts-based research Projekte investiert, wo an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst neuen Fragestellungen experimentell nachgegangen wird.
https://www.marcusjosefweiss.com/
Fotos: Victoria Nazarova
Walter Pobaschnig 3.1.2025