Liebe Anna Morgoulets, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Es ist sehr unterschiedlich, oft stehe ich schon um 5.00 früh auf um Sport zu machen, den ersten Zug zu nehmen oder um Geige zu üben! Manchmal ist der Tag so lang, dass ich nicht mehr weiß, was ich am Morgen gemacht habe. Es hat aber auch einen Vorteil- in einer Woche kann so viel passieren, die Zeit vergeht sehr langsam- und das liebe ich!

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Das Gleiche, was für uns immer schon wichtig war: Empathie und Humor! Wenn ich Empathie sage, meine ich in diesem Fall, das Verhalten anderer Menschen möglichst wenig auf sich selbst zu beziehen. Natürlich ist es wertvoll, sich in die Lage eines Mitmenschen zu versetzen. Noch wichtiger ist es meiner Meinung nach, nicht gleich böse zu reagieren, wenn jemand unfreundlich ist. Es kann ja sein, dass die Person gerade in Schwierigkeiten steckt, Schmerzen hat, nicht ausgeschlafen ist oder auch mal neidisch ist! Es gibt noch viele solcher Beispiele. Das Verhalten hat oft nichts mit uns zu tun. Ich versuche, mich möglichst oft daran zu erinnern – manchmal gelingt es auch! Wenn ich von Humor spreche, meine ich vor allem den Humor im Bezug auf sich selbst. Ich liebe Menschen, die sich selbst nicht zu ernst nehmen; sie haben meistens auch die Fähigkeit, in schwierigen Lebenslagen positiv zu bleiben.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Musik, der Kunst an sich zu?
Meiner Meinung nach steht die Menschheit ständig vor Aufbrüchen und Neubeginn, mit jeder Generation – natürlich vor allem in den letzten 100 Jahren. Die Menschen, die um 1900 geboren wurden und bis in die 1990er Jahre lebten, haben fast schon zwei Welten erlebt: von der Kutschenfahrt bis zur Mondlandung. Die junge Generation der 2000er Jahre wird bestimmt um 2100 eine wieder völlig andere Welt antreffen. Wesentlich ist dabei, wie bei jeder Veränderung, offen zu sein, aber auch kritisch, sich gegebenenfalls schnell anzupassen, wo es richtig erscheint, oder sich mit allen Kräften dagegen zu wehren, wenn es sich falsch anfühlt. Veränderungen sind nicht immer gut, bzw. sie haben immer mehrere Seiten und viele Konsequenzen. Die Rolle der Kunst war stets, Veränderungen zu reflektieren; Kunst reagiert immer. Sie kann mahnen, wenn sie nicht verboten wird. In der Musik ist es das gleiche: Beethoven oder Schostakowitsch reflektieren genau den Gemütszustand ihrer Zeit.

Was liest Du derzeit?
“How you feel is up to you”- Ein wunderbares Buch, das ich gerade fertig gelesen habe, sehr empfehlenswert für alle, besonders aber für Künstler*innen!
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Vor 10 Tagen habe ich in Klagenfurt das Deutsche Requiem von Johannes Brahms aufführen dürfen, es gibt da einen Satz (Nr. 3), wo der Bariton solistisch singt, in diesem Satz vertont Brahms den Psalm 39:5-8, in dem u.a. heißt es:
Herr, lehre doch mich,
daß ein Ende mit mir haben muß,
und mein Leben ein Ziel hat,
und ich davon muß.
Ach wie gar nichts sind alle Menschen,
die doch so sicher leben.
Sie gehen daher wie ein Schemen,
und machen ihnen viel vergebliche Unruhe;
sie sammeln und wissen nicht wer es kriegen wird.
Es erscheint mir wichtig, sich in unserer Zeit ab und zu an diesen Text zu erinnern – besser noch in Verbindung mit Brahmsscher Musik.

Vielen Dank für das Interview, liebe Anna, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Musikprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Anna Morgoulets, Musikerin
Zur Person/über mich: Anna Morgoulets studierte Geige in Russland, Israel und Österreich bei Elena Mazor und Pavel Vernikov.Von 2013 bis 2019 war sie 1. Konzertmeisterin des Kärntner Sinfonieorchesters.Seit 2019 ist sie Universitätsprofessorin für Violine an der Gustav Mahler Privatuniversität für Musik in Klagenfurt.Im Jahr 2015 gründete sie gemeinsam mit 8 KollegInnen das “ensemble minui” mit dem sie regelmässig im In- und Ausland konzertiert.
Fotos: Andrej Grilc
Walter Pobaschnig _ 12.11.2024