„Literatur schafft Empathie“ Barbara Schibli, Schriftstellerin _ Aargau/CHE 5.11.2024

Liebe Barbara Schibli, wie sieht jetzt dein Tagesablauf aus?

Der Vormittag ist in der Regel für das Schreiben reserviert. Vom Frühstück gleite ich da fast fliessend hinein – so früh am Morgen (ich bin eine Frühaufsteherin) denke ich oft sehr assoziativ und Textpassagen entstehen relativ leicht – aber ich schreibe nicht im engeren Sinne «Morgenseiten», die waren mir immer eher suspekt. Dennoch denke ich, dass auch mein Schreiben je nach Tageszeit und Verfassung – und ich kann das schon auch ein stückweit steuern – unterschiedliche Phasen durchläuft. So würde ich sagen, dass wenn es gegen Mittag geht, ich eher analytisch unterwegs bin.

Wenn ich kann, koche ich gerne über Mittag, das entspannt mich und ist auch ein kreativer Akt – auch wenn es meist ziemlich schnell gehen muss, aber ich koche selten zwei Mal dasselbe.

Am Nachmittag ist dann oft zuerst mal Administratives dran. Und dann entweder Überarbeiten oder Recherchieren.

Und dann gibt es natürlich noch die Tage, an denen ich unterrichte. Das mache ich zu 50%, denn vom Schreiben könnte ich nicht leben. Und auch wenn die beiden Tätigkeiten nicht immer gleich gut vereinbar sind, mag ich ihre Gegensätzlichkeit sehr. Ich mag am Unterrichten das Soziale, die Auseinandersetzung mit Mitmenschen, das gemeinsame Erarbeiten von Wissen, den Austausch, die lebhaften Diskussionen. Und das unmittelbare Feedback – das kommt ja beim Schreiben manchmal um Jahre verzögert. Und im Freifach Literarisches Schreiben kommen dann die beiden Tätigkeitsfelder zusammen, was ich als sehr beglückend erlebe.

Abends lese ich oder schaue noch Filme – ich lerne von Filmen viel fürs Schreiben. Ich gehe relativ spät schlafen, döse dann in zwei Sekunden weg. Manchmal träume ich wirr, was dann am Morgen wieder in Texte einfliesst.

Eben ist mein zweiter Roman „Flimmern im Ohr“ (Dörlemann Verlag) erschienen. Und da gibt es viel zu tun, da läuft vieles im Hintergrund, woran man vielleicht gar nicht so denkt., Organisatorisches, Werbung etc.  Es hält mich jedenfalls gerade ziemlich auf Trab. Und dann sind da auch Lesungen, die ich sehr gerne mache, da probiere ich gerade neue Formate aus, mit Musik und auch Gespräche über den historischen Kontext, das macht mir sehr viel Freude. Und dann bin ich auch schon wieder am nächsten literarischen Projekt. Das überlagert sich alles und meist auch alles innerhalb eines Tages.

Barbara Schibli, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Wachsam sein, vieles aufnehmen, sich nicht nur in einer Bubble bewegen, kritisch sein, auch Stellung beziehen. Das ist alles nicht einfach und braucht viel Energie und gelingt auch nicht immer gleich gut. Deshalb glaube ich auch, dass wir auch gut Acht auf uns geben müssen, damit meine ich in erster Linie unserer Gemeinschaft – nicht das ewige Kreisen um sich selbst. Ich denke, Selbstreflexion ist sehr wichtig, aber in Bezug auf ein Wir hin. Aufmerksam sein, was um uns geschieht und reagieren, wenn uns jemand braucht. Und auch den Bezug zu dem, was war, nicht verlieren, also auch die historischen Verbindungen im Auge behalten.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Kritisches Denken ist zentral, gerade wenn für komplexe Probleme einfache Lösungen präsentiert werden. Und im Austausch bleiben, überlegen, wo wir gemeinsame Nenner haben. Die Literatur hat dabei eine extrem wichtige Rolle: Beim Lesen literarischer Texte tauche ich in andere Leben, in andere Denk- und Fühlweisen ein, ich lerne mir fremde Welten kennen und entwickle so ein Verständnis für sie und ihre Probleme. Das schafft Empathie, die in meinen Augen ebenso zentral ist. Andere Blickwinkel einnehmen und mitfühlen und aktiv werden.

Was liest Du derzeit?

Ich lese immer viele Bücher parallel. Gerade fertiggelesen und mit meiner sich wöchentlich treffenden Lesegruppe diskutiert habe ich «Lichtungen» von Iris Wolff, jetzt sind wir an «Parade» von Rachel Cusk. Sehr gerne gelesen habe ich parallel «Hey, guten Morgen, Schöne, wie geht es dir» von Martina Hefter, und mich wahnsinnig für sie gefreut, dass sie den deutschen Buchpreis gewonnen hat! Und da ich von Han Kang noch nichts gelesen habe, habe ich mir eben Menschenwerk besorgt, da bin ich sehr gespannt. Und immer wieder mal kehre ich zu «Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen und wiederentdeckt» von Nicole Seifert zurück und viele Gedichte, immer wieder von anderen Autorinnen und Autoren, aber jetzt freue ich mich dann gerade auf die Poetikvorlesungen von Monika Rinck am Literaturhaus Zürich. 

Welches Zitat, welchen Textimpuls aus deinem Roman möchtest Du uns mitgeben?

Ein Gedanke, der mich stark leitet: Vorwärts schauen ist wichtig, aber das, was hinter uns liegt, sollten wir dabei nicht vergessen – dass historisches Bewusstsein zunehmend an Bedeutung zu verlieren scheint, sehe ich als gefährlich. Erinnerungskultur ist essenziell, weil sie unsere Zukunft formt.

Und wichtig finde ich dennoch auch: sich treiben lassen, ohne Ziel unterwegs sein, Zustände akzeptieren, das kann auch eine Krise sein und bei allem eine starke Kraft, die uns innewohnt, nicht vergessen: die Sinnlichkeit. 

Barbara Schibli, Schriftstellerin

Vielen Dank für das Interview, liebe Barbara viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen: Barbara Schibli, Schriftstellerin

Zur Person/über mich: Barbara Schibli, * 1975 in Baden/Schweiz, hat Germanistik, italienische Literaturwissenschaft und Publizistik studiert und lebt nach mehr als zwanzig Jahren in der Stadt Zürich und allen Sprachregionen der Schweiz nun wieder im Kanton Aargau. Sie unterrichtet an einem Gymnasium.

Aktuelle Romanneuerscheinung:  Barbara Schibli, Flimmern im Ohr, Dörlemann Verlag

In Deinem neuen Roman „Flimmern im Ohr“ geht es um einen Sommer der Erinnerungen – an Priskas Zeit in der Clubszene und der Frauenbewegung, vor allem aber auch an ihre grosse Liebe, die ebenfalls ins Visier des Schweizer Staatsschutzes geriet. Über dreissig Jahre später denkt Priska zurück und fragt sich, wie ihr Leben wurde, was es jetzt ist. Werden wir mit den Jahren immer mehr wir selbst oder verlieren wir uns in Kompromissen?

Gerade in der Mitte des Lebens ist man ja bisweilen erstaunt, wo man „plötzlich“ steht, weil man vorher vielleicht gar nicht so viel Zeit zum Nachdenken hatte, einfach ein bisschen getrieben ist oder ganz viel machen musste. Und dann hält man inne und ist vielleicht doch recht erstaunt, wo man da hingelangt ist, was mit einem „passiert“ ist. Denn ja, ich glaube im Leben der meisten Menschen sind Kompromisse unumgänglich – aber die Frage ist, was ist aus unseren Idealen geworden, denken wir noch an die Gemeinschaft oder sind wir einem Hedonismus verfallen, wofür engagieren wir uns? Ich hoffe, dasss wir uns mit den Jahren selbst besser kennen und dass das dazu führt, dass wir uns selbstbewusst öffnen können und den Blick weiten können.

Barbara Schibli, Flimmern im Ohr. Roman

288 Seiten | Gebunden mit Fadenheftung und Lesebändchen

€ (D) 25,– | sFr 34,– | € (A) 25,70

ISBN 978 3 03820 143 4

https://doerlemann.ch/produkt/flimmern-im-ohr/

Fotos: Benedikt Schnermann

Walter Pobaschnig _ 3.11.2024

https://literaturoutdoors.com

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